Wir leben in einer Welt wachsender imperialistischer Rivalität


Die internationale politische und ökonomische Ordnung verändert sich rapide. Die USA und Europa setzen zunehmend auf Protektionismus, Industriepolitik und das sogenannte Friendshoring von Lieferketten, wodurch im besten Fall nur noch Rohstoffe und Produkte von Verbündeten bezogen werden sollen. Die US-Führung spricht nahezu offen aus, man müsse den wirtschaftlichen und geopolitischen Aufstieg Chinas eindämmen.

Derweil ist Russland Teil des Clubs der isolierten und sanktionierten Pariastaaten geworden. Die Größe der russischen Wirtschaft und Russlands Rolle als einer der größten Energieexporteure der Welt verändern jedoch den Charakter dieser antiwestlichen Gruppe. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Rivalität zwischen den USA und China. In Gaza wird zeitgleich die Inkonsequenz einer vermeintlich »regelbasierten Ordnung« offenkundig.

Angesichts dieser globalen Veränderungen braucht die Linke eine Analyse, die sowohl eine progressive Außenpolitik als auch eine Vision für einen radikalen Wandel im jeweils eigenen Land ermöglicht. Ich möchte hier die Konturen der aktuellen imperialistischen Umstrukturierung umreißen und die Linke aufrufen, diese internationalen Prozesse, insbesondere in der Semiperipherie, aus einer kritischen Perspektive zu begutachten.

Die Rivalität zwischen den USA und China

In den vergangenen Jahren haben sich die Beziehungen zwischen den USA und China immer weiter verschlechtert. Das zeigt sich in feindseliger Rhetorik und diversen Aktionen wie beispielsweise der Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taiwan im Jahr 2022. In den letzten Monaten haben die US-amerikanische und die chinesische Führung jedoch verstärkt auf eine versöhnliche Sprache gesetzt und betont, keine Seite wolle einen Konflikt oder gar einen neuen Kalten Krieg. Sowohl Joe Biden als auch Xi Jinping versuchen, die Situation rhetorisch zu entschärfen – doch keiner von ihnen klingt überzeugend.

Ein Teil des Problems ist die Rhetorik selbst. Im April 2023 betonte die amerikanische Finanzministerin Janet Yellen, eine Konfrontation zwischen den beiden Staaten sei nicht unvermeidlich und die USA würden nicht versuchen, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg zu verhindern. Allerdings sagte sie auch: »Chinas Wirtschaftswachstum ist nicht unvereinbar mit der wirtschaftlichen Führungsrolle der USA.« Diese Aussage spiegelt wohl den Konsens in den herrschenden Kreisen der USA wider: Ein wirkliches wirtschaftliches und geopolitisches Gleichgewicht zwischen den USA und China ist nicht gewünscht und nicht hinnehmbar.

In einem kürzlich erschienenen Essay für Foreign Affairs mit dem treffenden Titel »What America Wants From China« verfolgt Ryan Hass, ein ehemaliges Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats, eine ähnliche Argumentation. Er fordert, die USA müssten versuchen, China in das internationale System einzubinden und Peking davon zu überzeugen, dass »der beste Weg zur Verwirklichung seiner nationalen Ambitionen darin bestünde, innerhalb der bestehenden Regeln und Normen zu agieren«. Wie Yellen betont auch Hass, die USA müssten ihre wirtschaftliche Führungsrolle bewahren, indem sie »einen allgemeinen Vorsprung gegenüber China bei technologischen Innovationen aufrechterhalten, insbesondere in Bereichen mit Auswirkungen auf die nationale Sicherheit«.

Yellen und Hass versuchen hier die Quadratur des Kreises: Man will einerseits China davon überzeugen, dass das US-zentrische System die beste Lösung für die eigene wirtschaftliche Entwicklung ist, und andererseits die USA aufrufen, den wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber China zu halten – notfalls, indem man Peking aktiv daran hindert, eigene Spitzentechnologien zu entwickeln. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze kommentiert dazu: »Es ist schwer erkennbar, inwiefern [Yellens] Vision – in der sich die USA das Recht anmaßen, zu bestimmen, welcher Kurs für das chinesische Wirtschaftswachstum akzeptabel ist und welcher nicht – eine Grundlage für Frieden sein kann.«

Auch in der Praxis scheinen die USA dieses Recht in Anspruch zu nehmen, vor allem, indem umfassende Sanktionen gegen die chinesische Halbleiterindustrie verhängt wurden. Als Huawei ein neues 5G-Handy mit einem Sieben-Nanometer-Prozessor vorstellte, der trotz der US-Sanktionen in China hergestellt werden konnte, räumte US-Handelsministerin Gina Raimondo ein, sie sei »bestürzt«. Die »einzige gute Nachricht« sei, dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass China solche Chips auch in großem Maßstab produzieren könne. Sie fügte hinzu, die USA bräuchten offensichtlich »andere Instrumente«, um die Sanktionen durchzusetzen.

Diese Äußerungen passen in den Kontext der aktuellen US-Politik, mit der die Weiterentwicklung der chinesischen Halbleiterindustrie eingeschränkt werden soll. Sie passen aber kaum zu Yellens Erklärung, dass »diese nationalen Sicherheitsmaßnahmen nicht darauf abzielen, uns einen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen oder Chinas wirtschaftliche und technologische Modernisierung zu behindern«. Angesichts der zentralen Bedeutung der Chipindustrie für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung muss man sich schon fragen: Was sollen derartige Maßnahmen denn sonst bewirken?

Beide Seiten, insbesondere mit Biden an der Spitze in den USA, bemühen sich, ein aggressives »Othering«, wie es insbesondere in den amerikanisch-russischen Beziehungen zu beobachten ist, zu vermeiden. In einem aktuellen Bericht der RAND Corporation, dem wichtigsten Think-Tank der US-Sicherheitsszene, wird beispielsweise betont, man dürfe die chinesischen Absichten und Motive nicht falsch verstehen und solle einen offenen Dialog und behutsame Diplomatie betreiben. Sowohl die Führungen der USA als auch Chinas sind sich der Bedeutung ihrer Beziehungen für das Schicksal der gesamten Welt bewusst. Keine der beiden Seiten sucht aktiv nach Auseinandersetzungen.

Dennoch scheint sich die Spirale der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen stetig weiterzudrehen – aufgrund des Handelskriegs, zunehmender Export- und Investitionskontrollen, gegenseitiger »Versicherheitlichung« der Beziehungen (zum Beispiel in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit) sowie geopolitischer Pulverfässer wie Taiwan oder den Gebieten im Südchinesischen Meer. Die Frage ist: Können die USA und China ein weiteres Abwärtsdrehen der Konfrontationsspirale vermeiden, indem sie eine weniger offensive Haltung einnehmen und ihre strategischen Ausrichtungen ändern – zum Beispiel, wenn die USA ihr Ziel der klaren strategischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung um jeden Preis aufgeben?

Marxistische Theorie und Kritik des Imperialismus – sowohl die klassischen Theorien von Rosa Luxemburg und Lenin als auch moderne Ansätze wie David Harveys Theorie des »neuen Imperialismus« – erkennen einen Zusammenhang zwischen aggressiver Außenpolitik und den Widersprüchlichkeiten der Kapitalakkumulation. Nach dieser Auffassung haben inter-imperialistische Rivalitäten eine strukturelle Ursache, die nicht auf rein imperialistische Ideologien oder das Streben nach eigener Sicherheit, was wiederum andere Staaten verunsichert (Stichwort »Sicherheitsdilemma«), zurückgeführt werden kann.

Nach der marxistischen Interpretation zwingen die inländischen Produktionsüberkapazitäten und die Überakkumulation von Kapital die nationale Bourgeoisie dazu, nach »außen« zu expandieren. In diesem Bestreben nimmt das Kapital gern die Hilfe des Staates in Anspruch. Schließlich sollen die Investitionen, Märkte und Handelswege in Übersee geschützt werden. Der Wettstreit des jeweiligen nationalen Kapitals um Märkte und profitable Investitionsmöglichkeiten führt somit zu inter-imperialistischen Rivalitäten zwischen Staaten.

Einige argumentieren, solche Konflikte seien heute durch das Aufkommen einer transnationalen kapitalistischen Klasse (TKK) überflüssig geworden, da ein langsam entstehender »transnationaler Staat« ihren Interessen dient. Aus empirischer Sicht erscheint die TKK-These jedoch zunehmend problematisch: Studien zeigen, dass die globalen kapitalistischen Netzwerke nach wie vor stark regionalisiert sowie ungleichmäßig sind und nur begrenzte Verflechtungen zwischen dem Globalen Norden und anderen Ländern, einschließlich China, bestehen. Darüber hinaus scheint das Konzept des »transnationalen Staates« angesichts der zunehmenden Militarisierung, des Protektionismus, der Handelskriege und der gegensätzlichen geopolitischen Visionen wie dem »Pivot to Asia« der USA und der chinesischen »Neuen Seidenstraße« beziehungsweise »Belt and Road Initiative« aktuell recht weit hergeholt.

Nun könnte man argumentieren, dass die Rivalität zwischen den USA und China eher von nationalen Sicherheitseliten und ihren unterschiedlichen Visionen des jeweiligen »nationalen Interesses« angetrieben wird als von kapitalistischen Eliten, die eigentlich eine globalisierte Akkumulation ohne nationale Spaltungen und Spannungen vorziehen würden. Mit anderen Worten: Aufgrund der relativen Autonomie des Staates von kapitalistischen Interessen können inter-imperialistische Rivalitäten durchaus nicht-ökonomische Ursachen haben. Dieses Argument ist zwar grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen (und spielt, wie wir später sehen werden, eine zentrale Rolle bei der Erklärung der amerikanisch-russischen Auseinandersetzungen), ist aber kaum auf die Rivalität zwischen den USA und China anwendbar.

Aus der Geschichte und dem historischen strategischen Denken Chinas lässt sich nämlich ableiten, dass gerade dieses Land eine eher zögerliche imperialistische Nation ist. Es gibt eine gewisse Tradition, Konfrontationen zu vermeiden. Andererseits führt die unermüdliche Suche nach neuen Märkten und Investitionsmöglichkeiten im Ausland, getrieben durch inländische Überkapazitäten und Kapitalüberakkumulation, fast zwangsläufig dazu, dass China auch seine globale militärische Präsenz ausbaut.

Dies wiederum erzeugt sowohl die wirtschaftlichen als auch sicherheitspolitischen Spannungen mit den USA. Angesichts der Bedrohung durch das expandierende chinesische Kapital (das eng mit dem chinesischen Staat verwoben ist) haben Teile der US-Kapitalistenklasse eine konfrontativere Haltung gegenüber China eingenommen – trotz der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen den beiden Ländern und der Bedeutung des riesigen chinesischen Marktes für amerikanische Unternehmen. Die Bühne ist damit bereitet für die inter-imperialistische Rivalität, die das 21. Jahrhundert prägen wird.

Die wirtschaftliche Dynamik der Rivalität zwischen den USA und China lässt sich eher mit den klassischen marxistischen Imperialismustheorien wie denen von Lenin und Luxemburg erklären und weniger mit den modernen Varianten, die entwickelt wurden, um die Zeit der US-geführten Globalisierung zu erklären, wie zum Beispiel die TKK-Theorie. Das soll freilich nicht heißen, dass die rund 100 Jahre alten marxistischen Imperialismustheorien einfach auf den heutigen Kontext angewendet werden können. Imperialismus (der proaktive Einsatz wirtschaftlicher, militärischer und anderer Formen von Zwang durch einen Staat gegen andere Staaten unter Bedingungen starker Machtasymmetrie) und inter-imperialistische Rivalitäten (Auseinandersetzungen zwischen imperialistischen Staaten um regionale und globale Dominanz) können komplexe Ursachen haben, die sich nicht lediglich auf die Widersprüchlichkeiten der Kapitalakkumulation reduzieren lassen.

Dennoch: In einigen Fällen, beispielsweise bei der aktuellen Rivalität zwischen den USA und China, stehen wirtschaftliche Faktoren im Vordergrund.

Diese Faktoren sorgen für eine potenziell brisante Situation. Michel Pettis liefert eine Analyse, die weitere und schärfere Auseinandersetzungen praktisch unausweichlich erscheinen lässt. Heute erwirtschaftet China 18 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Auf China entfallen jedoch nur 13 Prozent des weltweiten Konsums, während es 32 Prozent der weltweiten Investitionen und 31 Prozent der Produktion auf sich vereint. Wenn es China gelingt, die Wachstumsraten von vier bis fünf Prozent in den kommenden zehn Jahren sowie sein derzeitiges investitionslastiges Modell beizubehalten, würde sein Anteil am weltweiten BIP auf 21 Prozent steigen. Der Konsum würde jedoch immer noch weniger als 15 Prozent des weltweiten Gesamtvolumens ausmachen, während die Anteile an Investitionen auf 38 Prozent und an der globalen Produktion auf 36 Prozent steigen würden. Faktisch würde das bedeuten, dass der Rest der Welt noch mehr seiner Produktionsanteile und -kapazitäten an China abtreten würde.

Die führenden kapitalistischen Mächte sind nicht mehr bereit, Chinas Industriewachstum einfach hinzunehmen: Sie ergreifen protektionistische Maßnahmen und investieren massiv in die eigene Industrie (zum Beispiel hat die Biden-Regierung in den USA einen neuen »Supercycle« für Investitionen im verarbeitenden Gewerbe eingeleitet). Das lässt China nur wenige Optionen. Eine davon ist, die heimische Wirtschaft stärker auf den Binnenkonsum auszurichten. Dies würde jedoch einen radikalen Wandel in der politischen Ökonomie des Landes erfordern. Die derzeitigen Nutznießer des Status quo (also des investitionslastigen, stark exportorientierten Modells) würden sich vehement dagegen wehren.

Eine andere Option ist daher die verstärkte Suche nach neuen Märkten, wodurch China global noch präsenter und durchsetzungsfähiger würde. Mit seinem derzeitigen Wachstumsmodell hat China schlicht keine andere Möglichkeit, als »nach draußen zu gehen« und mit Unternehmen aus dem Globalen Norden um dieselben Märkte zu konkurrieren. Der Professor für politische Ökonomie an der Johns Hopkins University, Ho-fung Hung, sagt dazu: »Der interkapitalistische Wettbewerb zwischen US-amerikanischen und chinesischen Unternehmen beschränkt sich nicht auf den chinesischen Binnenmarkt – der Wettbewerb ist global geworden.«

Daher nochmals: Zwar sollte die sich verschärfende Rivalität zwischen den USA und China nicht auf rein wirtschaftliche Faktoren reduziert werden, aber die zugrundeliegenden ökonomischen Mechanismen sind offensichtlich und werden auch in den kommenden Jahren weiter bestehen.

Der Konflikt mit Russland

Die Konfrontation zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus ist von anderer Natur als die Rivalität zwischen den USA und China. Die Wirtschaftskraft des postsowjetischen Russlands war immer viel zu gering, um die Zentren der Kapitalakkumulation im Globalen Norden ernsthaft zu bedrohen. Vielmehr profitierte das russische Kapital von der globalen Integration, insbesondere im Finanzbereich, und wurde zu einem der Knotenpunkte im globalen kapitalistischen Netzwerk mit seinem festen Sitz im Westen. Russlands Anspruch auf seine »Einflusssphäre« im postsowjetischen Raum hat sicherlich ebenfalls eine wirtschaftlich bedingte Logik: Russische Unternehmen streben nach regionaler Expansion, weil sie überschüssiges Kapital reinvestieren müssen und die Möglichkeiten nutzen wollen, die Lieferketten aus der Sowjetära unter der Kontrolle russischer Firmen wiederherzustellen.

Die Wende des russischen Imperialismus hin zu mehr physischer Gewalt seit 2014 und ihr Höhepunkt, die vollumfängliche Invasion der Ukraine im Jahr 2022, haben jedoch keine kapitalistisch-wirtschaftlichen Wurzeln. Tatsächlich hat der Krieg die internationale Position des russischen Kapitals dramatisch geschwächt. Einige argumentieren, dass die Gründe für die russische Aggression gegen die Ukraine im angesprochenen »Sicherheitsdilemma« liegen: Demnach sollte die Osterweiterung der NATO den osteuropäischen Staaten Sicherheit bieten; sie verringerte aber auch die Sicherheit Russlands, was den Kreml schließlich dazu veranlasste, »loszuschlagen«, als die ukrainische NATO-Mitgliedschaft 2014 zu einer real denkbaren (wenn auch noch weit entfernten) Möglichkeit wurde.

In dieser Interpretation werden jedoch die tatsächlichen Sicherheitsrisiken der NATO-Erweiterung für Russland (das immerhin über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt) überbewertet und die kontraproduktive Tendenz des Kremls, Konflikte zu schaffen, um sie in Zukunft zu vermeiden, heruntergespielt. Tatsächlich waren die Entscheidungen des Kremls in den Jahren 2014 und 2022 das Ergebnis einer gewissen ideologischen Vision, in der die vermeintliche Verwundbarkeit Russlands überbetont wird und daher präventive Militäraktionen nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung« notwendig erscheinen.

Die russische Fehleinschätzung der tatsächlichen Bedrohungen und der möglichen Folgen einer imperialistischen Aggression hat ihre Wurzeln in der tiefliegenden Angst und dem Missverständnis von Volksbewegungen wie der Maidan-Revolution 2014 in der Ukraine sowie der Oppositionsbewegung 2011/12 in Russland, die der Kreml in seiner Lesart nur als ausländisches Machwerk begreifen konnte. Die Sorge um das Überleben des Regimes, sublimiert als Furcht vor einer westlichen Verschwörung gegen Russland (oder einer »westlichen Einkreisung« – obwohl es vor 2014 keine permanenten NATO-Stützpunkte in den an Russland angrenzenden Ländern gab), schuf das giftige ideologische Narrativ, das letztlich die Annexion der Krim, die Intervention im Donbas und schließlich die Invasion der Ukraine im Jahr 2022 möglich machte.

Anders als die Rivalität zwischen den USA und China hat Russlands Konflikt mit dem Westen also weniger strukturelle oder wirtschaftliche Ursachen als vielmehr ideologische (Fehl-)Wahrnehmungen. Doch so bedingt und ideologisch motiviert Russlands Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, auch war, sie hatte weitreichende globale Folgen.

Eine dieser Folgen ist die neu entdeckte Einigkeit des westlichen Blocks; eine Einigkeit, die in Reaktion auf die russische Aggression gefestigt wurde (auch wenn diese Einigkeit nach wie vor instabil ist, insbesondere weil die Wahl Donald Trumps in den USA und ein darauf folgender außenpolitischer Kurswechsel weiterhin sehr gut denkbar sind). Der Krieg in der Ukraine hat aber auch tiefgreifenden Einfluss auf die Rivalität zwischen den USA und China gehabt. Im November 2023 überschritt der Handel zwischen Russland und China die Marke von 200 Milliarden US-Dollar. Moskau ist damit nun der fünftgrößte Handelspartner Chinas. Außerdem ist Russland nicht nur ein wichtiger Lieferant von Energie und landwirtschaftlichen Gütern, sondern auch ein bedeutender Empfänger von chinesischen Industrieexporten, was angesichts der anhaltenden Produktionsüberkapazitäten in China besonders relevant ist.

Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und China sind höchst asymmetrisch. Das zeigt sich zum Beispiel bei den Verhandlungen über die Erdgaspipeline Power of Siberia 2, wo das Reich der Mitte klare Vorteile hat: Die chinesische Seite weiß, dass sich Gazprom ohne den europäischen Markt praktisch nirgendwo anders hinwenden kann als nach Osten, um dort sein Gas zu verkaufen. Politisch ist der Kreml aber weit davon entfernt, Chinas »Vasall« zu sein, wie manche Analysten behaupten. So gelang es Russland beispielsweise, Xis direkte und öffentliche Unterstützung für seine fortgesetzte Regierungsherrschaft zu erhalten, und das sogar zu einer Zeit, als gegen Russland ein internationales Verfahren wegen Kriegsverbrechen lief. Dies zeigt, dass für China das Überleben von Russlands Regierung wichtig ist.

Sowohl politisch als auch wirtschaftlich werden China und Russland immer stärker voneinander abhängig. Das macht die beiden Länder noch nicht zu einem antiwestlichen »Pol« in einer neu entstehenden bipolaren Welt, aber es belastet Chinas Beziehungen zum Westen zusätzlich. Russland war sich der zunehmenden Differenzen Chinas mit den USA und anderen Ländern des Globalen Nordens bewusst, als er die Invasion startete. Es ist ihm gelungen, diese Differenzen zu verschärfen. Denn es sind nicht nur strukturelle wirtschaftliche Faktoren, sondern auch der Krieg des Kremls, der China vom Westen entfernt. Die chinesische Führung selbst ist keineswegs so leichtsinnig, sich in eine direkte Konfrontation zu stürzen, wie es der Kreml im Jahr 2014 getan hat, aber der beschriebene »Push«-Faktor ist dennoch sehr stark.

Die Semiperipherie

Die Länder der sogenannten Semiperipherie lassen sich hinsichtlich ihrer Reaktion auf Russlands Einmarsch in der Ukraine in mehrere Gruppen einteilen. Die erste Gruppe besteht aus hochgradig isolierten Staaten, die ihrerseits in absoluter Konfrontation mit dem Westen stehen, darunter Nordkorea, Iran und Russlands Klientelstaat Syrien. Diese Länder haben Russland mit Militärgütern beliefert, vor allem mit Drohnen (Iran) und Artilleriegranaten (Nordkorea).

Das ist auch nicht verwunderlich, denn sie haben einerseits nichts zu verlieren, wenn sie den Westen noch stärker vor den Kopf stoßen, und andererseits viel von einer engeren Partnerschaft mit Russland zu gewinnen. Mit 2,76 Milliarden Dollar jährlich ist Russland heute beispielsweise der größte ausländische Investor im Iran. Die Aufnahme Russlands in diese »Gemeinschaft der Geächteten« verleiht der Gruppe jedenfalls mehr wirtschaftliche Schlagkraft. Das macht es natürlich einfacher, die westlichen Sanktionen gemeinsam zu überstehen.

Unter den großen Ländern der Semiperipherie, die noch in der westlichen Umlaufbahn agieren und in Analysen oft als »subimperialistisch« bezeichnet werden, sind zwei Arten von Reaktionen bemerkenswert. Die eine ist die schamlose Ausnutzung der Situation für eigene materielle Vorteile, wie es in der Türkei von Recep Tayyip Erdoğan oder in Indien unter Narendra Modi der Fall ist. Während die Türkei zu einer der wirtschaftlichen Lebensadern Russlands wurde und der bilaterale Handel seit der Invasion um mehr als 50 Prozent gestiegen ist, ist Indien heute ein wichtiges Zielland für russisches Rohöl, das in Indien raffiniert und weiterverkauft wird (nicht selten in den Westen). Die Reaktionen anderer subimperialistischer Staaten, wie Südafrika und Brasilien, sind weniger durch wirtschaftliche Faktoren motiviert und beinhalten aufrichtige, wenn auch größtenteils unausgegorene Versuche, den Konflikt zu lösen und Frieden zu schaffen.

Insgesamt zeigt das Abstimmungsverhalten der wichtigsten Staaten der Semiperipherie in der UN-Generalversammlung (siehe untenstehende Tabelle), dass sie nicht gewillt sind, Russlands Krieg uneingeschränkt zu verurteilen. Und selbst die Türkei, die von diesem Muster abweicht, baut ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland weiter aus. Dazu gehört auch die Lieferung von militärisch nutzbaren Gütern, wodurch die außenpolitische Haltung Ankaras durchaus als heuchlerisch und opportunistisch beschrieben werden kann. Tatsächlich haben die subimperialistischen Staaten den Krieg im Allgemeinen genutzt, um ihre Autonomie gegenüber dem Westen zu behaupten und zu stärken, auch wenn in der jeweiligen Bevölkerung die russische Aggression größtenteils verurteilt und missbilligt wird. Darüber hinaus haben sich in den zwei Jahren seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine die internationalen Organisationen, die eine Alternative zur westlich dominierten Weltordnung darstellen, weiterentwickelt. Dazu zählen vor allem die BRICS und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Die Autonomie dieser subimperialistischen Staaten hat jedoch nach wie vor ihre Grenzen. Der gewichtigste Faktor, der sie weiterhin an die US-zentrierte internationale Ordnung bindet, ist die Dominanz des Dollars. Aufgrund der herausragenden Rolle der US-amerikanischen Währung weigerte sich sogar die Neue Entwicklungsbank (eine BRICS-Institution), Projekte in Russland zu finanzieren, um sicherzustellen, dass sie sich weiterhin Geld auf den globalen Finanzmärkten beschaffen kann – und das, obwohl Russland zu den Gründungsstaaten der Bank gehört. Während Länder wie die Türkei opportunistisch versuchen, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu umgehen, sind sie ebenso darauf bedacht, Sekundärsanktionen zu vermeiden, die durch die Dominanz der USA im globalen Finanzsystem stets möglich und eine potenzielle Gefahr sind.

Eine gemeinsame BRICS-Währung wird zwar immer häufiger diskutiert, bleibt aktuell aber in weiter Ferne, und die subimperialistischen Staaten legen offenkundig wenig Wert darauf, dem Beispiel Russlands zu folgen, das nur begrenzt in US-Dollar operieren kann. Andererseits veranlasst die zunehmende Nutzung der amerikanischen Währung als »Waffe« sowie die allmählich, aber unverkennbar wachsende Bedeutung des chinesischen Yuan das US-Establishment dazu, die Gefahr für die bisherige Dollar-Dominanz ernst zu nehmen.

Regionale Konflikte

Regionale Konflikte wie der Gaza-Krieg haben ihre eigenen Ursachen und eine eigene Logik, die nicht ausschließliche auf globale Veränderungen zurückzuführen sind. Dennoch werden sie von globalen Entwicklungen beeinflusst. Der Nahe Osten wird nicht mehr ausschließlich von den USA sowie den amerikanischen Konzepten und Vorstellungen für die Region beherrscht. Stattdessen ist der Nahe Osten Schauplatz inter-imperialistischer Rivalitäten, wobei sich Russland und China auf ihre eigene Weise in die Situation einbringen, meist mit zerstörerischen Folgen (das markanteste Beispiel dafür dürfte Russlands Unterstützung für den mörderischen Diktator Baschar al-Assad in Syrien sein).

Ermutigt durch das chinesische und russische Engagement verfolgt indes der Iran über seine Stellvertreter und Verbündeten im Irak, Libanon, Syrien, Jemen und den palästinensischen Gebieten eine zunehmend ambitionierte und selbstbewusste Regionalstrategie. Darüber hinaus gab es in Gegenden wie Syrien Spannungen und sogar direkte militärische Konfrontationen zwischen amerikanischen und russischen Kräften.

Gleichzeitig verärgert Washingtons unnachgiebige Unterstützung für Israels Krieg in Gaza – trotz der mehrfachen Aufrufe der UN-Generalversammlung zu einem Waffenstillstand – den Globalen Süden (und schwächt die UN als Institution). Insgesamt trägt das Engagement mehrerer imperialistischer Mächte in der Region nicht dazu bei, die Konflikte zu lösen und die Spannungen abzubauen. Stattdessen wird eher Instabilität und Gewalt begünstigt.

Ein besonderes Beispiel für diese Fehlentwicklung ist die Erfolgsbilanz des UN-Sicherheitsrats mit Blick auf den Krieg in Gaza. Die meisten Resolutionen für einen Waffenstillstand wurden bekanntlich von den USA durch ein Veto blockiert. Das Land trägt somit große Verantwortung für die gegenwärtige Pattsituation. Mehrere der Resolutionen wurden aber auch von Russland und China abgelehnt. Als der Sicherheitsrat am 25. März dieses Jahres, ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges, endlich eine Waffenstillstandsresolution verabschieden konnte, bezeichneten die USA diese als »nicht bindend« und genehmigten weitere Militärhilfe für Israel, das sich seinerseits weigerte, die zentrale Forderung der Resolution zu erfüllen.

Damit erwies sich der Sicherheitsrat als gänzlich irrelevant und machtlos. Die USA tragen zwar den größten Teil zu dieser aktuellen Irrelevanz bei, aber auch Russland und China haben ihre Hände im Spiel. Nicht zu vergessen: Zwar sind die USA in erster Linie dafür verantwortlich, die Gräueltaten des Gaza-Krieges zu ermöglichen (indem sie Israel unbeirrt mit Waffen beliefern, während es nur dürftige Versuche gibt, humanitäre Hilfe zu leisten), aber der Krieg spielt sich in einem breiteren regionalen Kontext ab, in dem vor allem Russland eine mächtige destabilisierende Rolle spielt.

Eine andere Frage ist derweil, ob man Israel selbst als »subimperialistischen Staat« bezeichnen kann. Das Land führt kolonialistische Angriffe (ähnlich wie beispielsweise Aserbaidschan) und ist sicherlich von den USA abhängig, aber es ist keine regionale Wirtschaftsgroßmacht (wie es Russland oder Brasilien sind). Für Länder wie Israel und Aserbaidschan müsste daher wohl eine gesonderte theoretische Kategorie eingeführt werden.

Die imperialistische Welt

Die marxistische Analyse internationaler Beziehungen, wie sie derzeit praktiziert wird, ist für ein Verständnis der oben skizzierten Veränderungen in der Weltordnung sowohl geeignet als in gewissen Teilen auch ungeeignet. Einerseits bietet sie einen einzigartigen Blick auf die kapitalistischen Widersprüchlichkeiten, die den inter-imperialistischen Rivalitäten zugrunde liegen. Sie trägt so dazu bei, einige treibende Kräfte der Weltpolitik sichtbar zu machen, die von anderen Strömungen in der Beforschung der internationalen Beziehungen eher unterschlagen werden.

Andererseits neigen marxistische und linke Beobachterinnen und Beobachter dazu, immer wieder nach den wirtschaftlichen Ursachen für die Aggression eines Landes zu suchen, auch wenn diese nicht offensichtlich sind. So wird teilweise sogar die Existenz eines Imperialismus geleugnet, wenn dieser ganz offensichtlich ist (wie im Fall Russlands). Des Weiteren ist linke Politik per Definition internationalistisch, und linke Bewegungen sind besonders sensibel (und stehen vehement ablehnend) gegenüber den unterschiedlichen Ausdrucksformen des Imperialismus.

Folglich klafft eine Lücke – nicht nur in unserem Verständnis der Welt, sondern auch zwischen Theorie und Praxis, wenn es an eine Politik der internationalen Solidarität geht. Dies erfordert neue wissenschaftliche Anstrengungen, um die globale Dynamik des Imperialismus zu verstehen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die sich verändernde Position der Staaten in der Semiperipherie gelegt werden.

Ein theoretisches Konzept, das häufig verwendet wird, um deren gemeinsame Entwicklung zu analysieren, ist das Konzept des Subimperialismus. Dieses verweist auf eine Zwischenstellung zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Globalen Norden einerseits und regionaler wirtschaftlicher Expansion andererseits sowie »antagonistischer Zusammenarbeit« mit der dominierenden imperialistischen Macht, also den USA. Dieses Konzept muss jedoch angesichts der radikalen Abkehr Russlands von seiner eigenen subimperialistischen Rolle sowie des Aufstiegs Chinas zu einem neuen, alternativen Zentrum im Weltsystem überdacht und aktualisiert werden.

Diese letztgenannten Entwicklungen und die sich verändernde Natur des Imperialismus im Globalen Norden (wo zunehmend auf Protektionismus zurückgegriffen wird und die globalen Hegemonialbestrebungen des nördlichen Kapitals fallen gelassen werden) haben Auswirkungen auf die Position der Semiperipherie. Die Länder der Semiperipherie sollten untersucht werden, indem sowohl der Druck von außen als auch die inneren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Prozesse, die an der Gestaltung der Außenpolitik mitwirken, aufgedeckt werden.

Auf diese Weise können autoritäre und imperialistische Definitionen von »Multipolarität« (wie von Russlands Führung vertreten) von einer genuin internationalistischen außenpolitischen Perspektive unterschieden und getrennt werden. Eine solche Perspektive sollte die globalen linken Bewegungen leiten, die sowohl für Frieden zwischen den Ländern als auch für radikale Veränderungen innerhalb der Länder kämpfen. Dies sind zwei Ziele, die weder in der Theorie noch in der Praxis voneinander getrennt werden sollten.

In diesem Kampf ist das Konzept des Imperialismus nach wie vor unverzichtbar: einerseits als analytische Kategorie, die die wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Faktoren zwischenstaatlicher Aggressionen und Rivalitäten berücksichtigt. Und andererseits als politische Kategorie, anhand derer die Linke ihre Handlungskonzepte ausrichtet.



Author: Admin

Kommentar verfassen