Warum viele Täter erzieherisch nicht mehr erreichbar sind


Jugendrichter, Staatsanwälte und Jugendämter berichten seit Jahren von einer neuen Qualität der Jugendgewalt. Nur selten wird über Fälle in der Öffentlichkeit breit diskutiert, denn vor Jugendstrafkammern wird nicht öffentlich verhandelt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart machte kürzlich in anonymisierter Form an zwei Jugendstrafverfahren – dem Bolzplatz- und dem Livestream-Fall – deutlich, was die seit 2016 statistisch belegbare Zunahme der Jugendgewalt bedeutet:

Beim sogenannten Bolzplatzfall verabredeten sich sechs Täter zu einem Kampf auf einem Bolzplatz. Die Jugendlichen sind zwischen 14 und 16 Jahre alt. Sie prügeln auf einen auf dem Boden liegenden Jugendlichen lange ein, der Kampf eskaliert, es kommt zu lebensgefährlichen Taten.

Als das Opfer von mit ihm verbündeten Jugendlichen in Sicherheit gebracht wird, lassen die Angreifer nicht von ihm ab, sie zerren ihn sogar zurück auf den Platz, um weiter auf ihn einzuprügeln. Das Opfer erleidet so schwere Verletzungen, dass er über einen Zeitraum von sechs Wochen nur Flüssignahrung zu sich nehmen kann.

Folter aus Eifersucht

„Die Angeklagten“, sagt Staatsanwältin Christiane Frömel-Grüsy, „haben gar nicht verstanden, was sie dem Opfer angetan haben. Die Beteiligten waren nicht in der Lage, die Brutalität ihrer Tat zu erklären.“ Das Opfer wiederum habe die Tat nicht bei der Polizei angezeigt, sondern die Verletzungen mit einem angeblichen Treppensturz erklärt.

Der verquere Ehrbegriff der Jugendlichen verhindere, dass man sich bei der Polizei melde. Die Ermittlungsbehörden wären auf den Fall gar nicht aufmerksam geworden, wenn die Jugendlichen ihren Kampf nicht per Smartphone gefilmt hätten.

Der zweite Fall, den die Staatsanwaltschaft Livestream-Fall nennt, ist nicht minder drastisch: Ein Paar erniedrigt und foltert über Stunden einen Bekannten. Er muss Urin trinken, wird verbrüht, mit einem Messer verletzt und erleidet Schädelprellungen. Das Motiv ist Eifersucht – angeblich soll das Opfer per Whatsapp mit der Schwester des Täters geflirtet haben.

Es fehlt ein Unrechtsbewusstsein

Das gewalttätige Paar streamt die Tat live in einem Messengerdienst, nur deshalb werden die Ermittler auf den Fall aufmerksam. Die Hemmschwelle für solche Taten sei gering, sagt Frömel-Grüsy. In der Schule und im Elternhaus habe Werteerziehung gefehlt. Jugendliche verbreiteten ihre Gewalttaten in den sozialen Medien und versuchten so, ihr Selbstwertgefühl zu steigern.

Präsenz zeigen: Polizeikontrolle in Stuttgart im Mai 2023
Präsenz zeigen: Polizeikontrolle in Stuttgart im Mai 2023Ilkay Karakurt

Oberstaatsanwalt Albrecht Braun sagte, bei Jugendlichen komme es immer häufiger zu „völlig unkontrolliertem“ Einsatz von Gewalt: „Wir verzeichnen eine Zunahme von Tötungsdelikten gegen schon bewusstlose Menschen.“ Viele Jugendliche hätten einen archaischen Ehrbegriff verinnerlicht, es fehle ihnen das Unrechtsbewusstsein.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ist die fünftgrößte Anklagebehörde Deutschlands – in ihrem Einzugsbereich leben etwa zwei Millionen Menschen. In ihrem Zuständigkeitsgebiet gab es 2023 gegen Jugendliche und Heranwachsende 16.398 Verfahren – im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie ist das eine Zunahme von 13,6 Prozent.

Die Sozialisation entscheidet

Seit Juli 2022 befasst sich die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auch mit gewalttätigen Konflikten zwischen zwei rivalisierenden multiethnischen Jugendgangs aus dem Bereich Stuttgart/Esslingen sowie Zuffenhausen/Göppingen. Die zur Aufklärung der Straftaten und Schussabgaben eingerichtete Ermittlungsgruppe Fokus konnte 70 Haftbefehle und 180 Durchsuchungsbeschlüsse erwirken.

Typisch für diese neue Form der subkulturellen Gewaltkriminalität ist eine Überidentifikation mit dem eigenen Stadtteil. Psychologen und Kriminologen wie Dirk Enzmann und Katrin Brettfeld (Universität Hamburg) haben das Phänomen „Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ (GLMN) in den vergangenen Jahren erforscht.

Danach hängt die Ausprägung pathologischer Wertvorstellungen entscheidend von den Sozialisationsbedingungen und dem sozioökonomischen Status ab, weniger vom Geburtsland oder der Staatsangehörigkeit. Nach den Ermittlungserfolgen gegen die Stuttgarter Jugendgangs ist das baden-württembergische Landeskriminalamt dabei, eine Präventionsstrategie zu entwickeln, um den Führern der Jugendgangs die Nachwuchsre­krutierung zu erschweren. So machen Beamte Hausbesuche bei Jugendlichen und bei jungen Männern, die sich im Umfeld der Gangs bewegen, die aber strafrechtlich noch nicht aufgefallen sind.

Der erzieherische Ansatz des Jugendstrafrechts geht bei sogenannten Systemsprengern und jungen Straftätern ohne Wertegerüst ins Leere. „Wir sehen immer mehr junge Straftäter, die für erzieherische Maßnahmen überhaupt nicht mehr erreichbar sind“, sagte Eva Hanss, Staatsanwältin vom „Haus des Jugendrechts“, einer gemeinsamen Einrichtung der Stadt Stuttgart, der Jugendgerichtshilfe, der Polizei und der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.

Besonders häufig handle es sich bei dieser Problemgruppe um Migranten, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland kamen, oder solche, die in osteuropäischen Familienverbänden fester verwurzelt sind als in der deutschen Gesellschaft.

Eine Möglichkeit, mit dem neuen Phänomen umzugehen, ist es, für sehr junge deviante Jugendliche spezielle intensivpädagogische Einrichtungen zu schaffen. Eine weitere Möglichkeit ist es, die Strafmündigkeit zu senken.

„Es gibt gute Gründe, darüber nachzudenken, denn vielen unserer Täter ist bewusst, dass sie strafunmündig sind“, sagte Oberstaatsanwalt Braun. Die Zahl strafunmündiger Täter stieg im Bereich der Staatsanwaltschaft Stuttgart von 680 im Jahr 2019 auf 2230 im Jahr 2023.



Author: RoteRuhrarmee1920

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