Nein, die Ausländer nehmen den Deutschen nicht die Jobs weg


Sahra Wagenknecht ist angetreten, der extremen Rechten die Wählerinnen und Wähler streitig zu machen. Und glaubt man der Eigendarstellung im Anschluss an die EU-Wahlen, ist das auch gelungen: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gibt sich bei Bekanntgabe der Wahlergebnisse begeistert. »Aus dem Stand auf 6.2 Prozent« titelte auch die Tagesschau. Ärgerlich bloß: die Mission, den rechten durch Bestätigung ihrer migrationsfeindlichen Position das Wasser abzugraben, ist krachend gescheitert. Nur geschätzte 160.000 Stimmen sind laut Analysen von AfD zu BSW gewandert. Noch weniger Stimmenwanderung zum BSW gab es nur von den Grünen und den Nichtwählerinnen- und Wählern.

Die meisten BSW-Stimmen waren vorher bei der SPD verortet, gefolgt von Union und FDP und der LINKEN. In der Wochenzeitung Der Freitag erklärt Wolfgang Michal, »dass die These vom Wähleraustausch zwischen BSW und AfD Unfug ist. In Wahrheit ist es so, dass BSW und AfD in vielen Landkreisen gleichzeitig hohe Zugewinne erzielen«.

Antifaschismus durch Widerkäuen rechter Positionen hat noch nie funktioniert, ist aber gerade en vogue. Dieselbe Rhetorik wird von einem wachsenden Teil der europäischen Linken übernommen. Auch bei den dänischen Sozialdemokraten und Kräften wie der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung ist die Bedienung migrationsfeindlicher Haltungen fester Teil der politischen Agenda. Von der extremen Rechten unterscheidet sie der Vorwand, im Interesse der arbeitenden Klassen zu handeln: die angeblichen wirtschaftlichen Nachteile oder das fiktive Chaos, das durch die vermeintlich massive Zunahme irregulärer Migration drohe, gelte es zu bekämpfen. Migration wird als Klassenkonflikt dargestellt, der vor allem für die einheimische Arbeiterklasse nachteilig sei.

Die Lösung liegt laut Wagenknecht und ihren Verbündeten in der »Steuerung« der Migration. Konkret übersetzt sich diese Haltung beispielsweise in der geschlossenen Unterstützung des BSW für die Implementierung eines digitales Zahlungssystems zur rundum Überwachung von Geflüchteten. Der zentrale, linke Politikansatz, für die kollektive Verbesserungen der Lebensumstände und die Angleichung der Rechte aller einzustehen, wurde auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt. Stattdessen schließt man sich der von rechtsaußen betriebenen Spaltung der arbeitenden Klassen an. Diese verläuft zwischen »guten«, einheimischen Arbeiterinnen und Arbeitern auf der einen Seite und »schlechten«, zugewanderten Arbeiterinnen und Arbeitern auf der anderen Seite. Letztere werden als Bedrohung für die einheimische arbeitende Klasse dargestellt, da sie die Konkurrenz um die vermeintlich zwangsläufig begrenzten Mittel verschärfen würden.

Den immer weiter eskalierenden Hass auf alles als »fremd« markierte zu bedienen, um Wählerinnen und Wähler der extremen Rechten zu gewinnen, ist aber nicht bloß ein brandgefährliches Spiel. Es ist nicht nur eine moralische Katastrophe für jede sozialistische Bewegung, die sich für die Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten einsetzt. Es handelt sich nicht allein um eine extrem verkürzte Darstellung der komplexen Realität der Migration. Am bittersten ist: Die ökonomische Analyse, auf die Wagenknecht und ihre Verbündeten ihre Argumentation stützen, ist schlichtweg falsch.

Vergeigte Klassenanalyse

Wagenknecht behauptet: Der Zustrom irregulärer Migration nach Europa verschärfe den Wettbewerb im Niedriglohnsektor. Es entstehe eine Situation, in der die Unternehmen »die Arbeiter und die Arbeitnehmer noch besser gegeneinander ausspielen können, weil sie dann auch noch Menschen haben, die auch aufgrund ihrer persönlichen Situation natürlich für noch schlechtere Löhne arbeiten«. Das klingt erst einmal überzeugend – und erweckt den Eindruck, dass Linke, wenn sie für die Interessen der arbeitenden Klasse eintreten wollen, Migration skeptisch gegenüber stehen sollten. Somit wird unterstellt, man könne entweder für Klassenpolitik oder gegen Rassismus eintreten.

Eines ist wahr: der Niedriglohnsektor in Europa hat eine beeindruckende Größe erreicht. Die letzten EU-weiten Berechnungen aus dem Jahr 2018 zeigten, dass rund 15,3 Prozent der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt waren. Bei den weiblichen Arbeitnehmerinnen sind es sogar 18,2 Prozent. Die Definition von Niedriglohnarbeit ist von Land zu Land unterschiedlich und spiegelt auch Kaufkraftunterschiede wider. In Deutschland galt 2018 alles unter 11,50 Euro pro Stunde als Niedriglohn. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft der EU und auch der Niedriglohnsektor ist mit 20,7 Prozent der Erwerbstätigen wesentlich größer als im europäischen Vergleich. Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 hat nicht die von Linken gewünschten Effekte gehabt und die Einkommensstruktur allenfalls minimal verändert. Ob sich die miesen Bedingungen in diesem riesigen, prekären Sektor allerdings auf die hohe Zuwanderung von geringqualifizierten Geflüchteten zurückführen lassen, wie Wagenknecht und ihre Verbündeten behaupten, ist damit noch lange nicht ausgemacht. Es gibt mindestens vier offensichtliche Argumente, die belegen, warum das nicht der Fall ist.

Erstens: Der Anteil der als irregulär bezeichneten Zuwanderung in die EU betrug im Jahr 2022 nur 9,6 Prozent der insgesamt 3.777.063 zugewanderten Menschen. Die Unterscheidung zwischen regulärer und irregulärer Migration ist zwar in vielerlei Hinsicht künstlich, Fakt ist jedoch, dass die überwiegende Mehrheit der Migration nach Europa als regulär gilt und aus qualifizierten Arbeitskräften besteht. Solange ihre Qualifikationen anerkannt werden, arbeiten diese Menschen meist nicht in klassischen Niedriglohnsektoren und können daher in diesen Bereichen logischerweise auch keinen Lohndruck ausüben. Mit Ausnahme der Jahre 2015 und 2023 – bedingt durch die Kriege in Syrien und der Ukraine – lagen die Anteile in den letzten zehn Jahren auf einem ähnlichen Niveau. Da Wagenknecht vorgibt, das Recht vor Kriegen zu fliehen nicht infrage stellen zu wollen, sollten diese Ausschläge kein Problem darstellen. Wenn jetzt aber der weitaus größere Teil der Zuwanderung nach Europa regulär ist – und von der EU aufgrund der demografischen Entwicklung auch vollumfänglich erwünscht ist –, geht die Behauptung, der äußerst geringe, irreguläre Anteil der Zuwanderung sei das größte Problem, vollkommen an der Sache vorbei.

Zweitens: Die Arbeitslosenquote ist in Deutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Im Jahr 2005 lag sie noch bei 11,7 Prozent und ist 2023 auf 5,7 Prozent gesunken. Das ist jedoch kein Grund zum Feiern. Die antisoziale Aktivierungspolitik der SPD hat Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor gezwängt, um die exportorientierte deutsche Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber, diese Entwicklung zeigt, dass Deutschlands Reservearmee an Arbeitskräften rapide schrumpft. Der Anteil der lohnabhängig Beschäftigten in der Bevölkerung ist auf einem historischen Höchststand und wird voraussichtlich weiter ansteigen. Der demografische Wandel und der Mangel an Arbeitskräften – sowohl qualifizierten wie auch an nicht- oder geringqualifizierten – haben die Verhandlungsposition der organisierten Arbeitnehmerschaft gegenüber dem Kapital erheblich verbessert. Einige Gewerkschaften haben diese historische Chance erkannt und nutzen sie, um für Arbeitszeitverkürzungen zu kämpfen. Die Behauptung, dass die arbeitende Klasse aufgrund der irregulären Migration zu groß werden würde, um Druck auf die kapitalistische Klasse auszuüben, ist also wieder einmal vollkommen falsch.

Drittens: Nach aktuellen Schätzungen ist die Schattenwirtschaft in Deutschland auf rund 11 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung angewachsen. Informelle Arbeit umfasst, unter anderem, Tätigkeiten wie die Pflege alter oder hilfsbedürftiger Menschen, Reinigungsarbeiten, Sexarbeit, den Handel mit illegalen Waren oder verschiedene Tätigkeiten im Bausektor. Die informelle Wirtschaft besteht in großen Teilen aus Arbeitskräften mit Migrationshintergrund, ein Großteil davon ist weiblich. Menschen mit geringen oder in Deutschland nicht anerkannten Qualifikationen sind oft dazu gezwungen, in diesen Sektoren zu arbeiten. Das gilt insbesondere bei unsicherem rechtlichem Status oder wenn der deutsche Staat die Arbeitserlaubnis verweigert. Zwar entscheiden sich einige bewusst für die Arbeit in der informellen Ökonomie, doch die große Mehrheit der einheimischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer meidet die Schattenwirtschaft wie die Pest, wann immer sie nur kann. Im Gegensatz dazu geraten viele irreguläre Migrantinnen und Migranten in diesen prekären Sektor.

Es gibt also eine klare Trennung zwischen migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern in der informellen Wirtschaft und einheimischen Arbeiterinnen und Arbeitern in der formellen Wirtschaft. Aber in einigen Bereichen gibt es tatsächlich einen Wettbewerb zwischen dem informellen und dem formellen Wirtschaftssektor. Arbeitgeber ziehen beispielsweise im Pflege- oder Bausektor oft die informelle Beschäftigung der formellen vor, weil sie so ihre Lohnstückkosten senken können. Sie sparen Ausgaben für die Sozialversicherung und andere Steuern. Dieses Problem wird aber nicht durch die Anwesenheit von Arbeiterinnen und Arbeitern mit Migrationsgeschichte produziert, sondern durch den Profitdurst der Arbeitgeber und mangelnde Kontrolle von Arbeitsrechtsverletzungen. Wagenknecht und ihre Verbündeten verwechseln Ursache und Wirkung. Statt gegen Migrantinnen und Migranten zu wettern, wäre der Kampf für die Einhaltung von Arbeitsrechten im Sinne der gesamten arbeitenden Klasse. Wer migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter für die Arbeitsbedingungen in der informellen Wirtschaft verantwortlich macht, missversteht das tatsächliche Problem.

Viertens: Empirische Analysen für Mittel- und Nordeuropa zeigen eindeutig, dass die Zuwanderung geringqualifizierter Arbeitskräfte nur kurzfristig die Konkurrenz im Arbeitsmarkt erhöht. Nach spätestens fünf Jahren ist dieser Effekt verschwunden. Studien aus Schweden und Portugal zeigen außerdem, dass sich Zuwanderung im Niedriglohnsektor langfristig sogar als vorteilhaft für lokale Arbeiterinnen und Arbeiter erweist. Diese erreichen im Vergleich zu den kürzlich zugewanderten Arbeiterinnen und Arbeitern ein höheres Qualifikationsniveau und werden dadurch wesentlich häufiger befördert. Das sind gute Nachrichten für einheimische Arbeitskräfte. Für Arbeiterinnen und Arbeiter mit Migrationsgeschichte, und allen die als solche wahrgenommen werden, bedeutet das jedoch, dass sich ihre materielle Benachteiligung systematisch verfestigt. In Zahlen ausgedrückt heißt das: in Deutschland verdienen Arbeiterinnen und Arbeiter mit Migrationsgeschichte bei gleicher Qualifikation 17,6 Prozent weniger als ihre schon lange deutschen Kolleginnen und Kollegen. Wenn Wagenknecht behauptet, dass die einheimischen Arbeitskräfte unter irregulärer Migration leiden würden, verdreht sie die Realität.

Der Falle entfliehen?

Doch was bedeutet es, wenn die angeblich klassenpolitische Position gegen Migration nichts als ein argumentatives Luftschloss ist? Wer eine materialistische Position vertritt, sollte keine Scheu haben, die Argumentation von Wagenknecht und ihren Verbündeten als das zu bezeichnen, was sie ist: Wählerfang am rechten Rand und die Unterstützung menschenverachtender Politik gegenüber Geflüchteten. Es ist keine Politik, die auf die Emanzipation der arbeitende Klasse abzielt. Es ist Kulturkampf ohne materialistisches Fundament – das genaue Gegenteil von dem, wofür Wagenknecht zu stehen vorgibt. Dass dieser Ansatz nicht zum gewünschte Ziel führt – nämlich den Rechten das Wasser abzugraben –, wurde bei der EU-Wahl deutlich.

Eine ernsthafte materialistische Analyse hingegen weiß natürlich um den hohen und steigenden Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte in der arbeitenden Klasse, sowohl in der formellen als auch der informellen Wirtschaft. Sicherlich ist es sein massives Problem, wenn migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter in prekären, informellen Arbeitsverhältnissen festhängen, zu denen die Gewerkschaften praktisch keinen Zugang haben. Deswegen gilt es, sich mit den Menschen zu organisieren, die unter diesen Arbeitsbedingungen leiden, und sich solidarisch zu zeigen. Und genau daran arbeiten viele Gewerkschaften und gewerkschaftlich Aktive.

Die Debatte zwischen Antirassismus auf der einen Seite und Klassenreduktionismus auf der anderen Seite hat eine lange Geschichte. Im Jahr 1846 erklärte Hermann Kriege – ein selbsternannter Kommunist aus Deutschland, der kurz zuvor in die Vereinigten Staaten ausgewandert war – dass die Linke den Kampf gegen die Sklaverei entschieden ablehnen müsse. Seiner Meinung nach würde die Befreiung der Versklavten »die Republik in einen Zustand der Anarchie stürzen«, die Konkurrenz zwischen den »freien Arbeitern« drastisch zunehmen und der Wert der Arbeit massiv verringert. Der Kampf gegen die Abschaffung rassistischer Institutionen wie der Sklaverei würde von der Klassenpolitik ablenken, so Kriege, und die Interessen der arbeitenden Klasse untergraben. Exakt dieselbe Rhetorik wird heute von Wagenknecht und ihren Verbündeten mobilisiert.

In Reaktion auf diese Auseinandersetzungen veröffentlichten Karl Marx, Friedrich Engels und ihre Genossen am 11. Mai 1846 ein Rundschreiben gegen die Politik von Kriege und dessen Befürwortung der Sklaverei. Sie verurteilten seine politische Haltung aufs Schärfste und erklärten, dass er »kein Kommunist« sei. Die Großväter der materialistischen Analyse wussten sehr genau, dass die Emanzipation von der Sklaverei und den Institutionen des Rassismus ein Anliegen war, das von der Linken aufgegriffen werden musste. Marx und Engels waren nicht die einzigen, die das erkannten und die falsche, pseudomaterialistische Argumentationen, wie jene von Kriege, entschieden bekämpften. Auch große Teile der deutschen radikalen Linken entschlossen sich schlussendlich, auf der richtige Seite der Geschichte zu stehen. Es war unbestreitbar richtig, sich dem Kampf für die Abschaffung der Sklaverei anzuschließen, auch wenn die historische Chance zur vollständigen Demokratisierung der USA und zur Überwindung des Kapitalismus verpasst wurde, wie W. E. B. Du Bois gezeigt hat.

Dieselbe eindeutige Haltung für die Bekämpfung des Rassismus muss heute wieder als integraler Bestandteil jeder linker Positionen verteidigt werden. Der Kampf gegen den rassistischen Status quo ist ein linker Kampf. Der Kampf gegen ein System, das Menschen auf der Flucht in den Wüsten der Sahara, den Wäldern Weißrusslands und den Tiefen des Mittelmeeres tötet oder sie in Lager einsperrt, sollten sie es doch nach Europa schaffen, nur um sie dann wieder abzuschieben, ist notwendiger Teil jeder linken Position. Er ist Teil eines kollektiven Kampfes für die Verbesserung der Lebensbedingungen aller und die Überwindung des Kapitalismus, dessen zerstörerischer Antrieb zahlreiche Menschen überhaupt erst dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen.

Kulturkampf und die Unterstützung politischer Anliegen, die auf die Entmenschlichung Geflüchteter abzielen, stehen dem entgegen und verstärken sowohl den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck wie auch den immer weiter eskalierenden Hass auf Geflüchtete. Wenn wir das Erstarken der Rechten aufhalten wollen, müssen wir den migrantischen Anteil der arbeitenden Klasse organisieren und Allianzen bilden. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich sogar die historische Chance, Europa vollständig zu demokratisieren.



Author: AFP Deutschland

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