»Jüdisches Leben schützen« sieht anders aus


Seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober und dem Ausbruch des israelischen Rachefeldzugs gegen Gaza haben in Deutschland lebende linke Israelis wie ich einen schwierigeren Stand als jemals zuvor. Viele Menschen wollen uns nicht zuhören, sprechen aber in unserem Namen. Manche weigern sich, mit uns zu reden, weil sie davon ausgehen, dass wir alle die israelische Regierung unterstützen. Andere gehen gegen Muslime vor, um »uns zu schützen«, aber ohne uns zu fragen, ob wir das eigentlich wollen. Kurz: Wir werden instrumentalisiert.

Unsere Meinungen werden natürlich nicht halb so repressiv marginalisiert wie palästinensische Stimmen in Deutschland. Die Schwierigkeiten linker Israelis sollten auch nicht den Blick auf das wahre Grauen verstellen, das sich in diesem Moment in Gaza abspielt: die Binnenflüchtlinge auf beiden Seiten der Grenze, die Geiseln und Entführten, der akute, geplante Hunger, die nach offiziellen Zahlen fast 40.000 Leichen. Ganze Städte wurden zu Staub zermahlen.

In den vergangenen Monaten habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Zusammenhang zwischen der schrecklichen Lage in Gaza und jüdischem Leben in Deutschland von manchen propalästinensischen Aktivistinnen und Aktivisten als »Whataboutism« abgetan wird – als ein Versuch, von den Gräueltaten der israelischen Streitkräfte abzulenken. Dabei haben antisemitische und antiisraelische Ressentiments in Deutschland und weltweit tatsächlich zugenommen.

Nicht alle werden primär von Judenhass angetrieben, doch die Zunahme an Antisemitismus zu leugnen, hilft niemanden – auch nicht Palästinensern. Eine universalistische Linke mit dem Anspruch, gleiche Rechte für alle Menschen zu erreichen, muss sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen und Gegenstrategien entwickeln.

Antisemitismus, Israelkritik und die Grautöne dazwischen

In diesen Tagen kursieren viele Missverständnisse über Antisemitismus. Dabei ist zwischen vier verschiedenen Phänomenen zu unterscheiden, die allesamt zunehmen. Sie mögen auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheinen. Aber ihre Vermischung ist ein Hauptmerkmal der Argumente jener, die uns linke Israelis instrumentalisieren.

Erstens ist eine deutliche Zunahme antisemitischer Übergriffe zu erkennen. Diese klassische Bedrohung für jüdische Menschen zeigte sich zum Beispiel sehr deutlich, als zu Beginn des Krieges Molotow-Cocktails auf eine Synagoge in Berlin geworfen wurden, oder als im April ein Mann mit hebräischen Tätowierungen in Cottbus schwer zusammengeschlagen wurde. Man muss schon blind – oder antisemitisch – sein, um das nicht zu bemerken.

Zweitens gibt es auch eine große und wichtige Zunahme legitimer Kritik an Israel. Wir sehen das an Forderungen, Palästina als Staat anzuerkennen, die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, Netanjahu und sein Regime zu boykottieren oder einen Waffenstillstand und einen Geisel-Deal zu schließen. Diese Rufe haben nichts mit Antisemitismus zu tun – wie auch die vielen Israelis beweisen, die sie hier in Deutschland und in Israel selbst dementsprechend äußern. Diejenigen in der Mitte und auf der Rechten der deutschen Politik, die diese dringend notwendigen politischen Interventionen als antisemitisch bezeichnen, schützen Menschen wie mich überhaupt nicht, sondern nutzen uns aus, um ihre eigenen politischen Agenden zu verfolgen.

Das dritte Phänomen ist schon etwas komplexer. Es umfasst die wachsende Zahl an Vorfällen, bei denen antiisraelische Aktionen eine Grenze überschreiten und in gewalttätigen Antisemitismus übergehen oder bei denen sich Antisemitismus als pro-palästinensische Aktion verkleidet. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise eine Rede auf einer pro-palästinensischen Demo in Berlin, in der sich ein »deutscher Führer, der dieses Land vom Zionismus befreit« gewünscht wurde, die Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien von einer jüdischen Weltherrschaft und deren Übertragung auf israelische Politiker sowie der körperliche Angriff auf den rechten jüdischen Studenten Lahav Shapira in Berlin.

Natürlich bin ich weit davon entfernt, Shapira und seine provokanten antipalästinensischen Aktionen zu verteidigen. Aber es sollte ganz klar gesagt werden: Juden wegen ihrer »jüdischen Politik« anzugreifen, ist antisemitisch – auch wenn sich die Angreifer hinter linkem Vokabular wie »antikolonialistische Aktion« verstecken. Hier gibt es kein Entweder-oder: So wie der Angriff auf einen schwarzen politischen Aktivisten sowohl politisch als auch rassistisch ist, ist auch der Angriff auf einen jüdischen politischen Aktivisten sowohl politisch als auch antisemitisch.

Die vierte Kategorie ist auf den ersten Blick vielleicht die verwirrendste. Sie umfasst alle möglichen antiisraelischen Aktivitäten, die zwar nichts mit Antisemitismus zu tun haben, aber trotzdem einfach diskriminierend sind. Vielleicht sollten wir das als anti-israelisches Ressentiment bezeichnen. Dazu gehört etwa, dass man seine Kinder nicht mit israelischen Kindern auf dem Spielplatz spielen lässt, dass man keine Israelis bei Veranstaltungen oder in WGs duldet, oder dass man uns das Recht abspricht, uns als Israelis zu bezeichnen und als Israelis zu agieren, weil die israelische Identität im Rahmen des Postkolonialismus nicht anerkannt wird.

All diese Praktiken sind wahrscheinlich nicht antisemitisch, weil sie nicht auf Jüdinnen und Juden als solche zielen, sondern Israelis betreffen und auf die schrecklichen Aktionen Israels in diesen Tagen reagieren. Aber genauso wie es falsch ist, jede Person, die aus Russland kommt, mit Putin in Verbindung zu bringen, und genauso wie es diskriminierend ist, seinen Kindern zu sagen, dass sie wegen der Aktionen der iranischen Regierung nicht mit iranischen Kindern sprechen sollen, ist es auch falsch, dies gegenüber uns zu tun.

Diese vier Phänomene – Antisemitismus, antiisraelischer Antisemitismus, Israelkritik und antiisraelisches Ressentiment – nehmen allesamt zu. Dies zeigt, dass der Krieg im Gazastreifen das jüdische Leben nicht nur in Israel, sondern auf der ganzen Welt bedroht. Dies ist nur ein weiterer Grund, weshalb der Krieg beendet werden muss. Die deutsche Staatsräson, der Zionismus und der heutige Antisemitismus behaupten, Israel und das Judentum seien ein und dasselbe. Aber sie sind es nicht.

Die offiziellen Antisemitismusberichte in Deutschland zum Beispiel klassifizieren viele gerechtfertigte pro-palästinensische Handlungen und auch viele ungerechtfertigte anti-israelische diskriminierende Handlungen fälschlicherweise als antisemitisch. Dies verleitet wiederum zu viele gute und kritische Linke dazu, über die Zunahme des tatsächlichen Antisemitismus und des antiisraelischen Ressentiments in den letzten Monaten hinwegzusehen.

Diese Bedrohungen sind jedoch echt, und alle meine israelischen Freundinnen und Bekannten sehen sie – darunter Kommunistinnen, Antizionisten und radikale Queers. Das betrifft vermehrt Eltern von kleinen Kindern, da diese Menschen auf der Straße mehr Hebräisch sprechen und für gewöhnlich mehr Kontakt zu israelischen und jüdischen Institutionen haben. Aber es kommt oft auch in einigen kulturellen Bereichen vor, etwa wenn von Israelis organisierte Techno-Partys von Clubs oder Clubgängerinnen boykottiert werden.

Die problematische Vermengung von Antisemitismus und Israelkritik in der deutschen Statistik – die sich an der israelischen Staatsideologie orientiert – schadet uns, indem sie die verschiedenen Trends vermischt und damit verschleiert, womit wir konfrontiert sind.

Instrumentalisierung schützt niemanden

Wir leben in einer furchterregenden Zeit, und die berechtigte Wut der palästinensischen Gemeinschaft über Israels Vorgehen wird zweifach ausgenutzt. Erstens nehmen die politische Rechte und die politische Mitte sie als Begründung für ihre Anti-Migrationspolitik. Und zweitens wird sie von Antisemiten – Rechtsextremisten, Islamisten und anderen – instrumentalisiert, die die Situation in Palästina dazu nutzen, den Judenhass weiterzuverbreiten.

Diese beiden Formen der Instrumentalisierung sind nicht gleichzusetzen: Die erste, die palästinensische und jüdische Menschen bedroht, ist eindeutig schwerwiegender, denn sie geht vom politischen Establishment aus und nicht von Randgruppen. Aber eine kritische, nüchterne Analyse muss beide Gefahren vor Augen führen.

Mit dem Vorwand , »uns zu schützen« und »den Antisemitismus zu bekämpfen« werden Demonstrationen abgebrochen, Deportationen geplant und Menschen entlassen. Gleichzeitig wird unsere Position auch von Genossinnen und Genossen in der Linken bedroht. Es spielt für die Rechten keine Rolle, dass Israelis, die wie ich gegen den Krieg sind – und die einen bedeutenden Teil der jüdischen Szene in Deutschland und insbesondere in Berlin ausmachen –, betonen, dass die Unterdrückung pro-palästinensischer Stimmen uns nicht schützt. Es spielt auch keine Rolle für die antiisraelischen Linken, dass jede gerechte Lösung des Konflikts progressive israelische Verbündete einschließen müsste. Beide instrumentalisieren uns.

Die Ängste aller nehmen in diesen Tagen zu, und es ist auch wichtig zu betonen, dass sowohl die palästinensische als auch die israelische Gemeinschaft hier in Deutschland sehr sensibel auf Vorfälle in Diaspora-Gruppen andernorts reagiert. Polizeibrutalität gegen Palästinenserinnen und Palästinenser in Amsterdam oder antisemitische Angriffe in Paris haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Sicherheitsgefühl in unseren Gemeinschaften.

Das Bedrohungsgefühl der jüdischen Menschen in Deutschland hat sicherlich auch eine subjektive Komponente, die von den israelischen Medien beeinflusst wird. Diese propagieren immer wieder den zunehmenden Antisemitismus im Westen, damit sich die Menschen in Israel vielleicht weniger unsicher fühlen. Doch Deutsche müssen verstehen, dass diese Sensibilität für ausländische Ereignisse ein Teil jeder diasporischen Lebensweise ist, anstatt Ängste, die sich auf Vorfälle in London oder Boston beziehen, als irrelevant für das Leben hierzulande abzutun.

Darüber zu schweigen, dass Antisemitismus und antiisraelisches Ressentiment zunehmen, ist der schlechteste Weg, dieses Problem zu bekämpfen. Auf diese Weise lassen wir zu, dass es weiter instrumentalisiert wird, und ermöglichen so die Verfolgung palästinensischer Gruppen in Deutschland.

Zum Beispiel der Versuch des Berliner Senats, Exmatrikulierung mit der Begründung von Antisemitismus zu erleichtern, sollte nicht bekämpft werden, indem man antisemitische Taten verharmlost, sondern indem man feststellt, dass die Instrumentalisierung dieser Taten alle Studierenden in Berlin auf Jahre hinaus gefährdet. Da dieser Versuch einen fragwürdigen Präzedenzfall für die Verfolgung von politisch Aktiven aller Art schafft und die akademische Freiheit verletzt, sollte unser Punkt nicht sein, dass es überhaupt keinen Antisemitismus auf dem Campus gäbe, sondern dass dieser Antisemitismus ausgenutzt wird, um eine gefährliche anti-linke Maßnahme zu legitimieren.

In einer Zeit des wachsenden Rechtsextremismus Linke zu verfolgen, ist definitiv nicht der richtige Weg, um jüdisches Leben hier in Deutschland zu sichern. Wir alle erinnern uns, wer unsere Großeltern in Lager geschickt hat – es waren keine Muslime.

Den Krieg beenden, den Hass bekämpfen

Das größte Problem für Israelis in den letzten neun Monaten war – und ist leider immer noch – der Krieg in Gaza, der weiterhin einen Blutzoll fordert, von beiden Seiten. Und genauso, wie der Antisemitismus seit Beginn des Krieges auf dem Vormarsch ist, wäre auch das beste Mittel gegen Antisemitismus in Deutschland das sofortige Ende dieses verdammten Krieges. Ich kann nicht sagen, wie wir das erreichen können – und um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob wir, die wir in Deutschland leben, viel Einfluss auf den Verlauf der Geschehnisse im bombardierten und zerstörten Gaza haben. Aber es gibt einiges, das wir tun können, um die Situation hier zu verbessern.

Das Wichtigste, was Linke dazu beitragen können, ist, gemeinsam mit linken Israelis Widerstand gegen den Krieg zu leisten. Gruppen wie Israelis für Frieden, in der ich mich engagiere, fordern seit Monaten einen Waffenstillstand. Eine Zusammenarbeit mit uns würde der lokalen Linken helfen, das antiisraelische Ressentiment und den Antisemitismus in ihren Kreisen zu unterdrücken und eine gemeinsame Front gegen die Rechte zu bilden, die versucht, uns Israelis gegen die Linke und die Palästinenser zu instrumentalisieren.

Mir ist bewusst, dass angesichts der tiefen Trauer, der Wut und des Misstrauens diese Zusammenarbeit mit progressiven Israelis einigen propalästinensisch Engagierten schwerfallen würde. Wir dürfen nicht aufhören, über das Grauen in Gaza zu sprechen und dessen sofortiges Ende zu fordern. Aber zum Antisemitismus schweigen dürfen wir auch nicht. Vielleicht können wir damit beginnen, einfach miteinander zu reden und die Ängste und das Gefühl der Bedrohung des anderen ernst zu nehmen.



Author: AFP Deutschland

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