Israel-Besuch: Wie Baerbock sich Deutschlands Rolle in Nachkriegs-Gaza vorstellt


Israelis sind kein ruhiges Publikum. Es wird getuschelt auf der Sicherheitskonferenz an der Universität von Herzlia. Sie ist ein jährliches Großevent, bei dem wichtige Stimmen aus Israel und seinen internationalen Partnern die Lage in Nahost analysieren. Sie alle zeichnen ein düsteres Bild von der Zukunft: Israels endlos scheinender Krieg im Gaza-Streifen, in dem die islamistische Hamas trotz harter Schläge der israelischen Armee noch immer die entscheidende Kraft ist.

Terror-Chef Sinwar, der weiter die Freilassung der israelischen Geiseln im Gegenzug für einen Waffenstillstand verhindert. Große Spannung im Westjordanland und an der Grenze zum Libanon, von dem aus die mit dem Iran verbündete Hisbollah seit dem 8. Oktober unzählige Raketen und Angriffsdrohnen auf Israel feuert.

Die Redner kritisieren die „unentschiedene Kriegsführung“ der Netanjahu-Regierung scharf. Gelegentlich erschallen „Amen“-Rufe im großen Hörsaal. Doch als die deutsche Außenministerin am Montagabend das Podium betritt, wird es still. Als Annalena Baerbock Israels Vorgehen im Gaza-Streifen und die Siedlergewalt im Westjordanland kritisiert, könnte man eine Nadel fallen hören.

„Nachkriegsordnung für Gaza – Baerbock sprach von ‚Alliierten‘“

Außenministerin Baerbock hat zu einer internationalen Sicherheitspartnerschaft für ein Ende der Gewalt im Gaza-Streifen und für die Garantie von Israels Sicherheit aufgerufen. Korrespondentin Christine Kensche sieht in dem Vorschlag Parallelen zur Nachkriegsordnung in Deutschland.

Auf Englisch wagt die Außenministerin eine Rede, welche die Hamas, die Hisbollah und den Iran scharf verurteilt. Aber auch offen ausdrückt, was sie von Israel erwartet. Das ist, in dieser Klarheit, neu von einer deutschen Politikerin.

Dann schließt sich Baerbocks Merkels Grundsatz an, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei. Die damalige Bundeskanzlerin prägte ihn 2008 in einer Rede vor der Knesset. Seither haben viele deutsche Politiker diesen Satz wiederholt, ohne genauer auszuführen, was er eigentlich meint. Auch Baerbock betont, dass Deutschland fest an Israels Seite stehe. „Aber was bedeutet das heute?“, fragt die Außenministerin in Herzlia. Und entwirft einen Vier-Punkte-Plan, wie sie sich die Nachkriegsordnung im Gaza-Streifen vorstellt.

Sicherheit für alle Israelis sei nur möglich, wenn es auch Sicherheit für die Palästinenser gebe. Und die könne nur im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung erreicht werden. „Ich weiß, dass das nicht bei jedem hier in Israel eine beliebte Meinung ist, vielleicht heute noch weniger als vor dem 7. Oktober.“

Ablehnung vonseiten der Hardliner

Das ist eine Untertreibung. In Israel sorgen Forderungen nach einem eigenständigen palästinensischen Staat für Unmut. Ein solcher könne als Belohnung für den Überfall der Hamas gewertet werden, heißt es hier. Vor allem in der Netanjahu-Regierung, in der rechte Hardliner sitzen, die von einer Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens und der Annexion des Westjordanlands träumen, dürfte das sauer aufstoßen. Genau wie Baerbocks zweiter Punkt.

Die Außenministerin mahnt Israel, sich an das Völkerrecht zu halten. Berichte über die angebliche Misshandlung von Gefangenen aus dem Gaza-Streifen hätten sie beunruhigt, genau „wie extremistische Siedler im Westjordanland Palästinenser brutal aus ihren Häusern vertreiben, viel zu oft, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden“. Baerbock erwähnt „bestimmte Mitglieder des israelischen Kabinetts“, die auf die finanzielle Zerstörung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) drängten. Und auf Maßnahmen, „die die Besetzung des Westjordanlands noch weiter verstärken würden“.

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Ohne ihn zu erwähnen, adressiert Baerbock auch Premierminister Netanjahu, wenn sie den jüngsten Biden-Plan für ein Geiselabkommen zwischen Israel und der Hamas als „Schlüssel“ für Ruhe in Nahost bezeichnet. Dieser sieht drei Phasen vor, in denen die Hamas erst verwundete, alte und weibliche Geiseln herausgibt, bevor in einem zweiten Schritt dann alle verbliebenen israelischen Geiseln freigelassenen werden sollen – im Gegenzug für einen Rückzug der israelischen Truppen, einen Waffenstillstand und den Wiederaufbau der zerstörten Küstenenklave.

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Die Hamas stellt sich quer. Netanjahu hat dem Biden-Plan zwar zögerlich zugestimmt, verärgert die USA aber immer wieder mit gegenteiligen Aussagen. Unbegrenzte israelische Kontrolle über den Gaza-Streifen sei keine Option, sagt Baerbock. Deutschland fordere die Hamas auf, „diesen Plan zu akzeptieren, und wir zählen darauf, dass Israel zu seinen Verpflichtungen steht“.

Doch was wird aus Gaza, wenn sich Israel zurückzieht? „Wir müssen einen realistischen Blick auf die Zukunft des Gaza-Streifens werfen. Ein Gaza, in dem palästinensische Frauen, Männer und Kinder in Würde und ohne Angst leben können. Und vor allem ein Gaza, von dem aus die Hamas keine Bedrohung mehr für die Existenz des Staates Israel darstellt.“ Plötzlich erwacht der Saal wieder zum Leben; das israelische Publikum applaudiert der deutschen Außenministerin.

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Welche Art von Regierungsführung würde am Tag danach kommen? Wie finanziere man den wirtschaftlichen Wiederaufbau und stelle sicher, dass dieser nicht zum Aufbau neuer terroristischer Strukturen missbraucht werde? Baerbocks Antwort: Eine reformierte PA müsse den Gaza-Streifen übernehmen.

Bis es so weit sei, brauche es eine internationale Allianz, die Sicherheitsgarantien für Israel abgibt. Deutschland wolle Teil dieser Alliierten sein, die sich aus Europa, den USA und regionalen arabischen Partnern zusammensetzen sollen. Genauer könne das so aussehen, dass Deutschland als Teil der EU etwa für Sicherheit an der Grenze zwischen Gaza und Israel sorgt.

„Ich gehöre zu der Generation, die das große Privileg hatte, mein ganzes Leben lang in Westdeutschland in einer Demokratie und in Freiheit und Frieden zu leben.“ Andere seien damals da gewesen, die der Generation ihrer Großeltern beim Aufbau eines demokratischen Staates geholfen und Sicherheitsgarantien gegeben hätten. „So wie unsere Partner damals für uns da waren, so wollen wir auch heute für Sie da sein“, sagt Baerbock.

Wieder gibt es Applaus für Baerbock

Konkrete Sicherheitszusagen – das ist grüne Realpolitik. Und doch webt die Ministerin auch ihre viel proklamierte „wertebasierte Außenpolitik“ ein: „Frauen brauchen einen Platz am Tisch bei dieser Gesetzgebung.“ Wieder gibt es Applaus im Saal. „Denn das sehen wir überall auf der Welt: Friedensverträge halten nicht lange, wenn Frauen, die überall auf der Welt, in jeder Religion und in jedem Land die Hälfte der Gesellschaften bilden, nicht einbezogen werden.“

Baerbocks Plan für eine arabisch-amerikanisch-europäische Allianz, die Gaza wieder aufbaut und dort übergangsweise für Sicherheit sorgt, klingt gut, ist aber außerordentlich schwierig. Dort müssten Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate, die im Rahmen der Abraham-Abkommen diplomatische Beziehungen mit Israel eingegangen sind, eine entscheidende Rolle spielen.

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Und vor allem Saudi-Arabien, die große sunnitische Macht in der Region und Gegenspielerin des schiitischen Iran. Doch die Bemühungen der USA, die Beziehungen zwischen Riad und Jerusalem zu normalisieren, sind mit dem Gaza-Krieg ins Stocken geraten. Abu Dhabi und Riad fordern einen palästinensischen Staat als Ziel solcher Bemühungen. Eine Aufsicht über Gaza in Zusammenarbeit mit den arabischen Staaten wird auch in Netanjahus Kreisen erwogen. Aber mit dessen derzeitiger Koalition scheint die Umsetzung nicht möglich.

Deswegen wird Baerbock in ihren Gesprächen mit dem israelischen Außenminister Israel Katz und dem neuen palästinensischen Ministerpräsidenten Mohammed Mustafa am Dienstag erneut deutlich: Die „aggressive Siedlungspolitik“ im Westjordanland müsse aufhören, ermahnt sie Israel.

Annalena Baerbock mit Mohammed Mustafa in Ramallah

Annalena Baerbock mit Mohammed Mustafa in Ramallah

Quelle: dpa

„Dass die Zoll- und Steuergelder, die der PA nach dem Oslo-Abkommen zustehen, von den israelischen Behörden mittlerweile komplett blockiert werden, ist unverantwortlich.“ Mustafa hingegen habe sie gesagt, dass dessen wirtschaftliche und politischen Reformpläne im Westjordanland, wo die PA seit 18 Jahren ohne Wahlen regiert, „dann aber auch kommen müssen“.

Am Dienstag reist die Außenministerin weiter in den Libanon, auch bei diesem Thema mit einer Warnung im Gepäck: Mit jeder Rakete über die Grenze „wächst die Gefahr, dass eine Fehlkalkulation von einem Moment auf den anderen einen heißen Krieg auslöst“, sagt Baerbock in Jerusalem. Alle, die Verantwortung trügen, müssten daher äußerte Zurückhaltung walten lassen – „und vor allen Dingen muss die Hisbollah aufhören, Israel zu beschießen“. Das werde sie bei ihrem Besuch in Beirut deutlich machen.



Author: RoteRuhrarmee1920

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