Im Ukraine-Krieg droht ein tödlicher Sommer


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Zwei weibliche ukrainische Kadetten knien mit ihren Waffen im Anschlag während einer Schießübung.
Frische Kräfte für die Ukraine: Weibliche ukrainische Kadetten testen speziell für Frauen geschneiderte Uniformen während einer Schießübung nahe Kiew (Archivfoto). © IMAGO / NurPhoto

In der Ukraine fressen sich die Fronten fest. In diesem Sommer wird keine Seite eine Entscheidung erzwingen können. Sicher sind nur weitere Verluste.

Kiew – „Russland hat für seine Erfolge einen ziemlich grausigen Preis bezahlt“, schreibt das Wall Street Journal. Eine anonyme Quelle des ukrainischen Geheimdienstes hatte den 14. Mai dieses Jahres beschrieben – einen Tag, an dem die Truppen Wladimir Putins von Awdijiwka aus nach Nordwesten in Richtung Tschassiw Jar vorzudringen versuchten; und dabei rund 1500 Kräfte verloren. „Dies war Russlands schlimmster Tag seit Kriegsbeginn, wie aus einer westlichen Einschätzung ukrainischer und anderer Geheimdienste hervorgeht“, schreibt das Journal und prophezeit Schlimmes.

Sowohl der Ukraine als auch der russischen Invasionsarmee stehe ein tödlicher Sommer bevor, mutmaßt das Blatt, „ohne große Hoffnung auf Erfolge“. Westliche Beobachter dagegen halten wenig von Schwarzmalerei. Die Lage sei angespannt, aber nicht katastrophal, sagte beispielsweise Franz-Stefan Gady kürzlich gegenüber dem ZDF. Der Analyst des Institute for the Study of War (ISW) halte den Juli für den entscheidenden Monat an den Frontabschnitten. Ende Juli würde sich die gerade angestoßene Mobilisierungswelle der Ukraine auswirken und die Front verändern.

Ukraine: Mehrere zehntausend Kräfte beginnen gerade ihre Ausbildung

Gady spricht von mehreren zehntausend Mann, die gerade ihre militärische Ausbildung beginnen – er rechne mit einem ersten infanteristischen Schliff über fünf Wochen hinweg. Diese Grundausbildung sei ihm zufolge für alle Einberufenen gleich, danach folge für einige Tage oder Wochen die spezialisierte Ausbildung in den verschiedenen Brigaden beziehungsweise in den Nato-Partnerländern oder sogar in den USA, wie beispielsweise die Ausbildung der Piloten oder Patriot-C.rews. Gady begründet die schwierigen Verhältnisse an den verschiedenen Frontabschnitten vor allem mit dem auf der ukrainischen Seite aktuell fehlenden Personal.

„Der Westen hat in diesem Krieg noch immer die Macht; er kann noch eine Wende herbeiführen. Für die Europäer bedeutet das insbesondere, dass sie ihren Worten auch Taten folgen lassen müssen. Zwar ist es schon spät, aber die Europäer können diesen Kurs noch korrigieren.“ 

2024 werde für die Ukraine die schwierigste Zeit seit den ersten beiden Monaten der groß angelegten Invasion, hatte Gustav Gressel im Januar geschrieben. Im idealen Szenario würden die EU und die Ukraine Hand in Hand arbeiten, wie er für den Thinktank European Council On Foreign Relations skizziert hat: Während die EU neue Großgeräte zu produzieren beginne, hielte die Ukraine die russischen Offensiven auf, bis die russischen Einheiten weitestgehend aufgerieben wären. Gleichzeitig gelänge ihr, ihre Ausbildungsaktivitäten hinter der Front zu verbessern, sie formierte Brigaden frischer Kräfte und testete „neue Prototypen elektronischer Kriegsführungsgeräte und Drohnenabwehrwaffen“, wie er schreibt.

Sommer-Prognose: Tausende auf beiden Seiten werden wahrscheinlich sterben

Immerhin sind die Ansätze für dieses Szenario vorhanden, wobei sich die EU mit dem Nachschub nach wie vor schwertut. In Gressels „Zwischenszenario“ unterstützen vor allem die USA die Ukraine; allerdings lediglich tröpfchenweise, weil der Wahlkampf Spitz auf Knopf steht. Auch das ist Realität. Im schlimmsten Fall, der der Ukraine drohte, würde, Gressel zufolge, US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump einen Wahlkampf gegen Europa führen und eine republikanische Sammlungsbewegung formieren. Tatsächlich scheinen die letzten beiden Szenarien der künftigen Wahrheit näherzukommen.

„Tausende werden wahrscheinlich sterben, während die Krieg führenden Kräfte nach Öffnungen entlang einer weitgehend statischen Frontlinie suchen“, behauptet das Wall Street Journal – der Pessimismus scheint insofern vielleicht doch gerechtfertigt. Tatsächlich sekundiert das ISW dem Journal in dieser These. Das ISW veröffentlichte Aussagen Putins von Anfang Juni auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg, wonach „Russland nicht versuche, seine militärischen Ziele in der Ukraine schnell zu erreichen“, wie er sagte. Putin erklärte demnach, „dass die russischen Streitkräfte darauf abzielten, die ukrainischen Streitkräfte ,aus jenen Gebieten zu verdrängen‘, die unter russischer Kontrolle stehen sollten‘“, wie ihn das ISW zitiert.

Unerschöpfliche Ressourcen: Putin schickt jeden Monat bis zu 40.000 frische Kräfte an die Front

Rund 900 Quadratkilometer ukrainisches Territorium wolle er schon erobert haben, schreibt die russische Nachrichtenagentur Tass über Putins Aussagen. Laut dem ISW-Report deutete Putin weiter an, dass die russischen Streitkräfte für ihre Offensiven einen schrittweisen Ansatz verfolgten. Verschiedene Quellen behaupten, dass Russland allein in diesem Jahr 20.000 bis 40.000 Kräfte pro Monat neu rekrutiert habe. Putin hat in St. Petersburg kein Wort zu einem Ende des Krieges verloren, insofern ist davon auszugehen, dass er den Krieg auf unbestimmte Zeit fortzusetzen gedenkt.

„Um Russland in der Ukraine Einhalt zu gebieten, ist es daher erforderlich, von den reaktiven Ansätzen der letzten zwei Jahre abzurücken und eine proaktivere Strategie zu verfolgen“, schreiben Elizabeth Hoffman und Benjamin Jensen. Um die vom Wall Street Journal apostrophierte Aneinanderreihung von kleineren oder größeren Scharmützeln zu verhindern, behaupten die beiden Wissenschaftler von der Denkfabrik Center for Strategic & International Studies (CSIS) eine strategische Weitsicht, die der bisherigen und noch zu befürchtenden Länge dieses Krieges entspricht.

Alternde Armee: Selenskyjs Soldaten sind im Durchschnitt um fünf Jahre älter als zu Kriegsbeginn

Politikwissenschaftler Gady bezweifelte ebenfalls, dass eine der beiden Seiten entweder mit einer Offensive oder Gegenoffensive in nächster Zeit entscheidenden Boden gutmachen könne. Direkt an der Front kämpften aktuell knapp unter 200.000 Kräfte auf der jeweiligen Seite gegeneinander, sagte er im ZDF – dazu zählt er für jeden direkt kämpfenden Soldaten drei mit Unterstützungsaufgaben betraute dazu. Allerdings, so räumt er ein, wird mit der Dauer des Krieges auch der Soldat älter: Gady schätzt, dass das Durchschnittsalter der Soldaten, vor allem auf ukrainischer Seite, von 40 Jahren bei Beginn des Krieges auf 45 Jahre gestiegen sei. Ihm zufolge sei aber wichtig zu verstehen, „dass keine der Seiten eine solche quantitative Überlegenheit hat, dass es zu einem entscheidenden Durchbruch kommen kann“, wie er sagte.

Die Prognose eines tödlichen, verlustreichen und nahezu hoffnungslosen Sommers würden die CSIS-Analysten wahrscheinlich stützen: „Krisenreaktion ist im besten Fall Folgemanagement. Es geht um Brandbekämpfung und schnelles Eindämmen eines brennenden Gebäudes, anstatt sich die Zeit zu nehmen, als Brandschutzbeauftragter darüber nachzudenken, wie man Brände verhindern und künftige Brände unter Kontrolle bringen kann“, schreiben Hoffman und Jensen. Sowohl der US-Präsident Joe Biden als beispielsweise auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) müssten nun mit einer Strategie aufwarten.

Reaktion des Westens: USA und Nato warten ab, bis etwas passiert

„Wir haben von Beginn an gesagt, wir handeln immer lageangepasst“, hat Generalmajor Christian Freuding vor drei Wochen erläutert. Im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt hatte der Offizier im Sonderstab Ukraine im Verteidigungsministerium Stellung bezogen zum Frontverlauf. Freudig erzählte von Hubschraubern, die über der Grenze zwischen dem ukrainischen Charkiw und dem russischen Belgorod aus die Ukraine angegriffen hätten; er berichtete von den Gleitbomben-Angriffen über 70 Kilometer hinweg aus dem russischen Kernland heraus und davon, dass sich russische Geschütze tagelang unbehelligt auf die Verteidiger hätten einschießen können.

Das sei weder militärisch noch moralisch vertretbar gewesen, schloss der deutsche Panzer-General und verneinte, dass Deutschland mit Waffenlieferungen zur Kriegspartei würde. Weil diese Waffen im Besitz der Ukrainer seien, von ukrainischen Kräften bedient würden und somit von Deutschland „keine zurechenbare Schädigungshandlung“ ausginge, wie er formuliert hat. Insofern wird das Wall Street Journal mit seiner Prognose eines hoffnungslosen und tödlichen Sommers die Frage auf, warum die USA und die europäischen Partner aufgrund dieser These nicht schon viel früher oder viel intensiver geholfen haben. „Logik der Krisenreaktion“ nennen das Hoffman und Jensen.

Sie definieren diese Logik dadurch, dass die Ukraine stückweise mit Waffen versorgt würde, ohne „den zeitlichen Fluss der Ressourcen“ abzustimmen – das führe dazu, dass die ukrainischen Militärs außerstande wären, zeitlich und räumlich weitgreifende Operationen zu planen. Diese Logik hatte auch Gustav Gressel bereits im Januar kritisiert: „Der Westen hat in diesem Krieg noch immer die Macht; er kann noch eine Wende herbeiführen. Für die Europäer bedeutet das insbesondere, dass sie ihren Worten auch Taten folgen lassen müssen. Zwar ist es schon spät, aber die Europäer können diesen Kurs noch korrigieren.“ 



Author: RoteRuhrarmee1920

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