Für Russland ist der Westen schuld


Dagestan sollte am Montag rasch zur Ruhe kommen. Die Antiterroroperation sei abgeschlossen, meldeten Behörden am Morgen, „in Zusammenhang mit der Liquidierung der Bedrohungen für Leben und Gesundheit der Bürger“. Begonnen hatte der Einsatz am Sonntagabend im Zuge von Angriffen auf Polizisten, Kirchen und Synagogen in der Stadt Derbent und in Machatschkala, der Hauptstadt der Nordkaukasus-Teilrepublik. Das Ermittlungskomitee sprach von fünf Angreifern, die getötet und identifiziert worden seien.

Das Republikoberhaupt, Sergej Melikow, ordnete in der Nacht auf Montag eine dreitägige Trauer an. Die Zahl der Opfer unter den Polizisten gab Melikow in einer Videoansprache mit mehr als 15 an, die der zivilen Opfer bezifferte er nicht genau; das Ermittlungskomitee sprach am Morgen von vieren. Eines der Opfer nannte Melikow mit Namen: Vater Nikolaj, einen 66 Jahre alten Priester, der mehr als vier Jahrzehnte lang in einer russisch-orthodoxen Kirche in Derbent gewirkt habe. Die Tochter des Priesters sagte der kremltreuen Zeitung „Iswestija“, der Priester sei durch einen Kopfschuss getötet worden. Zuvor hatte es geheißen, ihm sei die Kehle durchgeschnitten worden. Auch ein Wachmann der Kirche soll erschossen worden sein. In Derbent wurde auch eine Synagoge Ziel der Angreifer, die das historische Gebäude anzündeten und zerstörten.

Nahezu gleichzeitig setzten weitere Angreifer in Machatschkala eine andere Synagoge in Brand, erschossen angeblich zwei Wachleute, griffen auch eine Verkehrspolizeistation sowie eine russisch-orthodoxe Kathedrale an. In einem zwischen Derbent und Machatschkala im Landesinneren gelegenen Dorf namens Sergokala soll später am Abend ein Polizist verwundet worden sein. Dieses Dorf steht im Fokus der Ermittlungen: Alle fünf getöteten Angreifer sollen laut russischen Telegram-Kanälen aus der Gegend stammen.

Zwei von ihnen waren demnach Söhne des dortigen Bezirksleiters, Magomed Omarow, ein weiterer dessen Neffe. Omarow wurde festgenommen und aus der Machtpartei „Einiges Russland“ ausgeschlossen, wegen „die Partei diskreditierender Handlungen“. Omarow soll im Verhör zugegeben haben, gewusst zu haben, dass seine Söhne „Wahhabiten“ gewesen seien, islamistische Fundamentalisten. Videos aus Machatschkala sollen Omarows Söhne zeigen: Bärtige, schwarz gekleidete Männer, die schießen und in späteren Aufnahmen offenbar tot auf dem Boden liegen.

IS-Terroranschläge soll es für den Medienapparat nur im Westen geben

Weitere Angreifer sollen der Leiter der Sektion einer kremltreuen Scheinoppositionspartei von Sergokala sowie der 28 Jahre alte Mixed-Martial-Arts-Kampfsportler Gadschimurad Kagirow gewesen sein, ein Schüler des Vaters und Trainers des MMA-Weltstars Chabib Nurmagamedow. Unklar blieb, ob alle Angreifer getötet wurden. Die „Provinz Khorasan“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (ISPK) lobte über ihre Kanäle „unsere Brüder aus dem Kaukasus“, die nun gezeigt hätten, „wozu sie in der Lage sind“. Fachleute wollten darin eine Anspielung auf eine „Kaukasus-Provinz“ des IS erkennen, die sich im vergangenen Jahrzehnt damit gebrüstet hatte, eine Reihe von Angriffen und Anschlägen verübt zu haben.

So gäbe es in Russland eigentlich viel zu sagen und fragen über den ersten Fall von mutmaßlich islamistischem Terror seit dem ISPK-Anschlag auf den Konzertsaal Crocus City Hall nahe Moskau, der im März mindestens 145 Menschen tötete. Die Straßenkämpfe in Derbent und Machatschkala, die auch etwa drei Dutzend Verletzte forderten, waren laut dem unabhängigen und in Russland verfolgen Medium „Agenstwo“ mit mehr als acht Stunden die längsten im Nordkaukasus seit einer Angriffsserie in Grosnyj, der Hauptstadt von Dagestans Nachbarteilrepublik Tschetschenien, im Dezember 2014.

Einen Doppelanschlag wie nun in Derbent und Machatschkala hatte es in Dagestan zuletzt im Mai 2012 gegeben. Der jüngste IS-Anschlag in der im russischen Vergleich armen, mehrheitlich muslimisch geprägten Teilrepublik war im Februar 2018 verübt worden; damals hatte ein junger Mann in der Stadt Kisljar fünf Frauen erschossen, die aus einer russisch-orthodoxen Kirche kamen. Dass der IS sich dieses Anschlags bezichtigte, blieb in Russland schon damals weitgehend unbeachtet.

Denn schon seinerzeit war der islamistische Terror für die Darstellung des Macht- und Medienapparats etwas, das vor allem in einem dem Untergang geweihten Westen stattfinden sollte, nicht in Russland. Nach dem Terrorangriff auf die Crocus City Hall behauptete Präsident Wladimir Putin gar, das Land könne „nicht Objekt von Terrorangriffen vonseiten islamistischer Fundamentalisten werden“. Denn es sei ein „einzigartiges Beispiel“ der „Einheit“ von Religionen, Konfessionen und Ethnien und trete zudem für eine „gerechte Lösung im Nahostkonflikt“ ein.

Putins Sprecher zieht Parallele zum ukrainischen Angriff auf die Krim

Derbent war Ende Juni 2023 Ziel von Putins erster Reise nach dem Aufstand der Wagner-Miliz gewesen, der genau ein Jahr vor dem Doppelanschlag vom Sonntag die Verwundbarkeit seines Herrschaftssystems aufgezeigt hatte. Damals besuchte Putin die über der uralten Stadt thronende Festung Naryn-Kala ebenso wie eine Moschee aus dem achten Jahrhundert, beschwor die Geschlossenheit der „multikonfessionellen, multiethnischen, aber einigen“ Bevölkerung und hob hervor, dass man den Koran in „anderen Ländern“ weniger respektiere als in Russland.

Nach den antisemitischen Ausschreitungen am Flughafen von Machatschkala Ende Oktober, wo ein Mob nach der Landung eines Flugzeugs aus Israel über Stunden randalierte und Jagd auf Juden machte, hatte der Kreml dem Westen vorgeworfen, die russische Gesellschaft spalten zu wollen. Putin versuchte damals, das Pogrom zur Rekrutierung von Soldaten zu nutzen: Wer den Palästinensern beistehen wolle, solle sich zum Krieg gegen die Ukraine melden, forderte er.

An solchen Äußerungen Putins orientierte sich offenkundig jetzt Republikoberhaupt Melikow, der den Doppelanschlag ins Ringen mit dem Westen einreihte. Früher hätten vor allem diejenigen mitbekommen, was „auf der ganzen Welt“ geschehe, die heute an der „speziellen Militäroperation“ – dem Angriffskrieg gegen die Ukraine – teilnähmen und „unser Land an der Front schützen“, sagte Melikow in seiner nächtlichen Videobotschaft. „Aber wir müssen verstehen, dass der Krieg auch in unser Haus kommt. Das haben wir auch früher gespürt, aber heute sind wir direkt mit diesem Krieg in Berührung gekommen.“ Melikow sprach von einem Angriff auf „unsere Geschlossenheit“ und hob hervor, die Angreifer seien „auch aus dem Ausland vorbereitet“ worden. Die knappen Berichte des Staatsfernsehens über den Doppelanschlag hoben hervor, dass die Angreifer „unter anderem ausländische Waffen“ benutzt hätten.

Als Putins Sprecher am Montag nach dem Doppelanschlag befragt wurde, verband er ihn mit einem ukrainischen Angriff auf die besetzte Krim. Dabei wurden ebenfalls am Sonntag offiziell vier Menschen getötet und 155 weitere verletzt, als Trümmer einer offenbar von der Flugabwehr abgeschossenen Rakete unter anderem auf einen Strand fielen. Solcher Beschuss kriegswichtiger Militäreinrichtungen wie dem Sitz der Schwarzmeerflotte und dem Militärflugplatz Belbek gilt Moskau als „Terrorangriff des Kiewer Regimes“.

Der Präsident erhalte Informationen darüber, wie den Verletzten des Raketenangriffs auf die Krim ebenso wie denjenigen geholfen werde, die durch „den Angriff von Verbrechern in Dagestan“ verletzt worden seien oder Verwandte verloren hätten, sagte Dmitrij Peskow nun. Die Frage, ob Russland ein Rückfall an den Beginn des Jahrhunderts drohe – als islamistische Terroranschläge noch häufiger waren als heute –, verneinte Peskow: „Die Gesellschaft ist absolut konsolidiert.“



Author: RoteRuhrarmee1920

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