Europäische Union: Von der Leyen für zweite Amtszeit nominiert – Politik


Seit den Europawahlen vor drei Wochen hört man in Brüssel immer wieder einen Satz, der je zu einem Drittel nüchterne Zustandsbeschreibung, dankbares Stoßgebet und ängstliches Pfeifen im zappendusteren Wald ist: „Die Mitte hat gehalten.“

Gemeint ist damit: Rechtsradikale und rechtsnationale Parteien haben zwar in vielen EU-Ländern deutlich hinzugewonnen – die AfD in Deutschland, Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich, die Fratelli d’Italia der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni. Aber die Rechten haben zum Glück nicht die Macht im Europaparlament erobert. Die wird immer noch von den drei großen, politisch gemäßigten europäischen Parteifamilien gehalten, die jene besagte „Mitte“ repräsentieren: von der bürgerlich-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), den Sozialdemokraten (S&D) und den Liberalen (Renew). Zusammen haben diese drei Fraktionen eine deutliche Mehrheit im Parlament und können – pfeif, pfeif – die Demokratie- und Europafeinde im rechten Lager in Schach halten.

Der Autoritätsverlust, den Bundeskanzler Scholz erlitten hat, ist mit Händen zu greifen

Dieser Die-Mitte-hat-gehalten-Logik folgt auch das Tableau für die Besetzung der Brüsseler Spitzenposten, das die europäischen Staats- und Regierungschefs am Donnerstag beschlossen haben. Die drei Ämter wurden unter den drei dominierenden Parteifamilien verteilt: Die EVP behält die Kommissionspräsidentschaft, Amtsinhaberin Ursula von der Leyen soll eine zweite Amtszeit bekommen. Der Vorsitz im Europäischen Rat, dem Gremium, in dem die EU-Regierungen vertreten sind, geht an die Sozialdemokraten – konkret: an den ehemaligen portugiesischen Premierminister António Costa. Die Liberalen schließlich dürfen die estnische Regierungschefin Kaja Kallas als neue EU-Außenbeauftragte nach Brüssel schicken, wo sie zudem als Vizepräsidentin der Kommission angehören wird. Alles très bruxellois.

Und zumindest theoretisch sollte die Mitte auch im Europaparlament halten. Dort muss sich zunächst im Juli Ursula von der Leyen mit einfacher Mehrheit bestätigen lassen – 361 von 720 Abgeordneten müssen für sie votieren. Im Herbst braucht dann Kallas die gleiche Anzahl an Stimmen, um als Mitglied der neuen Kommission tätig werden zu können. Da der EVP-Fraktion nach derzeitigem Stand 188 Abgeordnete angehören, der S&D-Fraktion 136 und der Renew-Fraktion 75, die drei zusammen also über 399 Stimmen verfügen, sollte eine Mitte-Koalition möglich sein, die für von der Leyen stimmt.

In den meisten nationalen Parlamenten würden sich jetzt die Fraktionschefs und deren Peitschenschwinger an die Arbeit machen, um mögliche Dissidenten auf Linie zu zwingen. Im Europaparlament ist Fraktionsdisziplin allerdings ein Konzept, das ungefähr so viel Beachtung findet wie der Aufruf eines Frömmlers zur Abstinenz in einem irischen Pub. Auf die Rückendeckung der Staats- und Regierungschefs, die von der Leyen am Donnerstag nominiert haben, ist für die Deutsche ebenfalls kein echter Verlass. Der Autoritätsverlust in Brüssel, den Europas führender Sozialdemokrat, Bundeskanzler Olaf Scholz, und der prominenteste Liberale der EU, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, durch die Niederlagen ihrer Parteien bei der Europawahl erlitten haben, ist nach Angaben von Diplomaten mit Händen zu greifen.

Absprachen mit rechtsextremen Parteien würden die Deutsche liberale Stimmen kosten

Zehn Prozent Abweichler pro Fraktion im Parlament gelten daher als durchaus möglich – wenn nicht deutlich mehr. Für von der Leyen wäre das politisch das Ende: Wenn nur 39 Abgeordnete aus den drei Mitte-Fraktionen nicht für sie stimmen – wenn die Mitte eben nicht hält –, verpasst sie die Mehrheit. Vorhersagen will dieses Szenario momentan niemand in Brüssel, ausschließen aber eben dezidiert auch nicht. Wie die Abstimmung über von der Leyen im Europaparlament ausgehen werde, sei „völlig offen“, sagt ein Beobachter – das ist keine beruhigende Diagnose für die deutsche Kommissionspräsidentin.

Von der Leyen wird daher in den nächsten Wochen sehr viele Gespräche mit Europaparlamentariern führen, sowohl mit den nationalen Delegationen und einzelnen Angehörigen der drei Mitte-Fraktionen als auch mit Leuten, die politisch links oder rechts davon stehen. Denn wenn die Stimmen in der Mitte nicht reichen, bleibt der Bewerberin kaum eine Wahl, als dies- und jenseits davon nach Unterstützern zu suchen.

Allerdings funktioniert diese Suche nach dem Prinzip kommunizierender Röhren: Von der Leyen kann weder zu weit nach rechts noch zu weit nach links ausschwenken, wenn sie nicht riskieren will, dass ihr auf der jeweils anderen Seite Unterstützer abspringen. Politische Absprachen mit rechtsextremen Parteien würden die Deutsche sozialdemokratische und liberale Stimmen kosten. Sich der grünen Fraktion in die Arme zu werfen – immerhin 54 Sitze –, würde dagegen unter konservativen Mitgliedern ihrer eigenen EVP-Fraktion zu Desertionen führen. In der Praxis gibt es außer den 24 Abgeordneten der Fratelli d’Italia aus der rechtsnationalen EKR-Fraktion und den zwölf deutschen und fünf französischen Grünen eigentlich keine nennenswert großen nationalen Delegationen im Parlament, die von der Leyen auf ihre Seite ziehen könnte. Und auch das würde nur reichen, um 41 Dissidenten aus der Mitte auszugleichen.

In von der Leyens Umgebung setzt man auf Vernunft und Eigeninteresse der Abgeordneten

In von der Leyens Umgebung setzt man daher auf Vernunft – und das Eigeninteresse der Abgeordneten. Jeder Parlamentarier müsse sich bei der Abstimmung im Juli eben fragen, ob es eine Alternative zu von der Leyen gebe, die politisch am Ende besser für die eigenen Ziele sei, heißt es in Brüssel. Oder ob man sich abseits stellen und einflusslos machen wolle.

Das trifft einerseits auf die italienischen Fratelli zu. Meloni hat sich bei der Nominierung von der Leyens am Donnerstag zwar enthalten. Sie war verärgert, dass die Staats- und Regierungschefs aus den drei Mitte-Parteien sie bei der Personalauswahl weitgehend ignoriert hatten. Aber Melonis Enthaltung wird in Brüssel als Signal gewertet, dass ein Votum ihrer Abgeordneten im Parlament für die Deutsche zumindest nicht ausgeschlossen ist. Meloni, so heißt es, wisse, dass sie die Hilfe der EU-Kommission brauche, um Italien wirtschaftlich stabil zu halten und ihr größtes innenpolitisches Problem zu bewältigen, die illegale Immigration.

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Es trifft anderseits aber vor allem auf die Grünen zu. Sie waren in den vergangenen fünf Jahren sehr zufrieden mit der ambitionierten Klimaschutzpolitik von der Leyens. Und für sie ist die Bestätigung der amtierenden Kommissionspräsidentin die einzige halbwegs verlässliche Garantie, dass diese Politik nicht gestoppt und zurückgedreht wird. Wenn man die Äußerungen der vergangenen Tage aus der Fraktion richtig deutet, ist das den Grünen sehr bewusst.



Author: RoteRuhrarmee1920

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