Endspiel für Macron? Was Sie über die Wahl in Frankreich wissen sollten


Viele Franzosen stellen sich drei Wochen nach Ankündigung der vorgezogenen Neuwahlen noch immer dieselbe Frage: Was hat Emmanuel Macron geritten, als er am Abend der Europawahl die Nationalversammlung aufgelöst hat? Wollte er nicht wahrhaben, dass Marine Le Pens Partei Rassemblement National (RN) ihren Siegeszug auch bei den regulären Parlamentswahlen 2027 fortsetzen könnte?

Der Präsident will sich bislang nicht als Verlierer sehen. Er hofft auf die Klärung der politischen Verhältnisse. Diese ist ihm gelungen: Er hat sich entmachtet. Und: Frankreich war noch nie so extrem wie heute.

Wann wird gewählt?

Knapp 50 Millionen Wahlberechtigte sind am 30. Juni und 7. Juli aufgefordert, ihre 577 Vertreter für die Nationalversammlung zu wählen, das Unterhaus des französischen Parlaments. Der Wahlkampf hat nur drei Wochen gedauert.

Anders als bei den letzten Parlamentswahlen wird mit einer Rekordwahlbeteiligung von rund 66 Prozent gerechnet. Mehr als zwei Millionen Bürger haben im Vorfeld eine Vollmacht beantragt, um sich an einem oder an beiden Wahlsonntagen durch eine Vertrauensperson vertreten zu lassen. Das allein zeigt, dass die Wahl als wichtig, wenn nicht historisch empfunden wird.

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In Frankreich gilt nicht das den Deutschen vertraute Verhältniswahlrecht, sondern das Mehrheitswahlrecht. Gewählt wird in zwei Wahlgängen, was zu einer Rechnung mit vielen Unbekannten führt und Voraussagen schwierig macht.

In der Vergangenheit hat das in der Regel zu klaren Mehrheiten, aber zur Benachteiligung kleiner Parteien geführt. Auch der frühere Front National, heute RN, war deshalb lange in der Nationalversammlung unterrepräsentiert.

Quelle: Infografik WELT

Erst vor zwei Jahren brach der Damm und die rechtsnationale Partei gewann 89 Sitze. Konservative und sozialistische Kandidaten hatten bis dahin eine Brandmauer gezogen und einen front républicain gegen den RN errichtet, um den Sieg eines rechtsnationale Kandidaten zu verhindern.

Das System wird schon länger als ungesund empfunden und schürt Politikverdrossenheit. Seit Jahren wird deshalb mehr Proporz gefordert.

Wie wird gewählt?

Man darf sich die französischen Parlamentswahlen wie 577 gleichzeitig stattfindende Lokalwahlen vorstellen: Mit im Durchschnitt sieben Kandidaten pro Wahlkreis sind mehr als 4000 Kandidaten am Start.

Um im ersten Wahlgang zu gewinnen, muss ein Kandidat die absolute Mehrheit und gleichzeitig 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten seines Wahlkreises haben. Angesichts der Konkurrenz und schlechter Wahlbeteiligung kommt das sehr selten vor. In der Regel treten die beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen haben, eine Woche später in einem zweiten Wahlgang bei einer Stichwahl gegeneinander an.

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Bei hoher Wahlbeteiligung kann es auch zu sogenannten triangulaire kommen, mit drei Kandidaten in der zweiten Runde, denn jeder Kandidat, der auf über 12,5 Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten seines Bezirks kommt, rückt weiter. Bei den vergangenen Parlamentswahlen 2022 waren das aber Ausnahmen.

Experten gehen davon aus, dass es dank der hohen Wahlbeteiligung zu außergewöhnlichen vielen, nämlich bis zu 170 Dreierkonstellationen kommen könnte.

Wie ist die Lage?

Aufgeheizt. In den ersten Tagen hat die Überraschungswahl vor allem Chaos ausgelöst. Es wirkte wie ein „Blitzkrieg“, in dem sich alle politischen Kräfte in großer Eile neu ordnen und aufstellen mussten. Eric Ciotti, Parteichef von Frankreichs Konservativen Les Républicains (LR), hat erstmals ein Bündnis mit dem rechtsnationalen RN angekündigt und wurde prompt aus seiner Partei ausgeschlossen, aber ein Gericht hat seinen Ausschluss kurz darauf für ungültig erklärt.

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Eric Ciotti, Parteivorsitzender der französischen Republikaner

In zahlreichen Wahlkreisen treten deshalb zwei Kandidaten von LR an, Getreue und Überläufer. Es ist vermutlich das Ende der Schwesterpartei der CDU, der derzeit sechs Prozent vorausgesagt werden.

Nach erstem Chaos haben sich schnell drei Blöcke herauskristallisiert: Marine Le Pens starker rechtsnationaler Block mit 62 Überläufern der Konservativen. In der Mitte eingekeilt steht Macrons Regierungslager Ensemble (Gemeinsam für die Republik). Allen Umfragen nach wird seine Fraktion von bislang 250 Abgeordneten stark zusammenschrumpfen.

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Wahl-Flugblatt mit Marine Le Pen und dem Premierminister-Kandidaten Jordan Bardella.

Links der Mitte haben sich neun Parteien unter dem Label Nouveau Front Populaire (NFP) zu einem Linksbündnis zusammengetan, das so unterschiedliche Kräfte wie den proeuropäischen Sozialdemokraten Raphaël Glucksmanns und den dezidiert antieuropäischen Jean-Luc Mélenchon des Unbeugsamen Frankreich (LFI) vereint.

Auch der sozialistische Ex-Präsident François Hollande befindet sich dort – in Gesellschaft von Philippe Poutou von der Neuen Antikapitalistischen Partei, gegen den eine Anzeige wegen Verherrlichung des Terrorismus läuft, weil er die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober als legitimen Akt des Widerstands bezeichnet hat.

Weshalb kommt es Links der Mitte zu diesem unwahrscheinlichen Bündnis?

Bei den links-grünen Parteien geht es schlicht ums Überleben. Aus reiner Wahltaktik haben sie ihre tief greifenden Unterschiede für die Zeit der Wahlen überwunden und, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen, die 577 Wahlbezirke unter sich aufgeteilt.

RN-Kandidat Jordan Bardella (l.), Premierminister Gabriel Attal aus Macrons Team (M.) und der Kandidat der linken La France Insoumise, Manuel Bompard (r.), bei der TV-Debatte am Dienstag

RN-Kandidat Jordan Bardella (l.), Premierminister Gabriel Attal aus Macrons Team (M.) und der Kandidat der linken La France Insoumise, Manuel Bompard (r.), bei der TV-Debatte am Dienstag

Quelle: AP

Mélenchons radiale Linkspartei LFI hat den Bärenanteil von 233 Wahlkreisen erhalten. Die Sozialdemokraten von PS müssen sich mit 155 zufriedengeben, obwohl sie bei den Europawahlen dank Glucksmann besser als die radikale Linke abgeschnitten hat. Die Grünen haben 82, die Kommunisten 51 Wahlkreise erhalten.

Wer wird gewinnen?

Egal, was passiert, Le Pen darf sich schon jetzt als Siegerin feiern lassen. Ihr rechtsnationaler Block könnte laut jüngster Umfragen auf 36 Prozent der Stimmen kommen, gefolgt vom linken Block des neuen Front Populaire mit knapp 30 Prozent.

Macrons Mitte dürfte mit rund 20 Prozent nur drittstärkste Kraft werden. Eine absolute Mehrheit scheint im Augenblick sowohl für den rechten wie auch für den linken Block unwahrscheinlich.

Wie katastrophal wäre eine Niederlage für Macron?

Das französische Wahlsystem hat es bis 2022 relativ einfach gemacht, kurz nach der Präsidentschaftswahl auch eine absolute Mehrheit im Palais Bourbon zu bekommen. Macron wurde sie für seine zweite Amtszeit jedoch verweigert. Regierungschefin Elisabeth Borne hatte deshalb größte Mühe, Reformen durchzusetzen.

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Raphael Glucksmann, Emmanuel Macron, Marine Le Pen, Jordan Bardella (v.l.n.r.)

Unmöglich war das Regieren nicht. Gesetze wie die umstrittene Rentenreform sind im Hauruckverfahren dank eines Verfassungsartikels ohne Abstimmung durchgedrückt worden. Macron wurde deshalb vorgeworfen, das Parlament zu missachten.

Wie wird Frankreich regiert?

Das vermag im Augenblick niemand zu sagen. Sicher scheint nur eins: Stärkste Kraft im Parlament wird nicht Macrons ehemalige Regierungsmehrheit sein, der Präsident aber bleibt bis Mai 2027 im Amt. Einen Rücktritt hat er bereits ausgeschlossen. Deswegen wird es zu einer Kohabitation kommen, so nennt man das, wenn Präsident und Regierungschef unterschiedlichen politischen Lagern angehören.

Geschieht das, verliert der übermächtig wirkende Präsident Stärke. Obwohl ihm traditionell die Bereiche Außenpolitik und Verteidigung bleiben, wird er zu einer Symbolfigur, zu einer Art Bundespräsident, auch wenn der Vergleich mit deutschen Verhältnissen etwas hinkt, während der Premierminister ähnlich wie der deutsche Kanzler regiert.

Die Nationalversammlung in Paris

Die Nationalversammlung in Paris

Quelle: AFP

Internationale und europäische Verträge darf der Präsident aushandeln und unterzeichnen, aber er braucht für die Unterschrift das Einverständnis des Regierungschefs. Beim Europarat wird Frankreich in Zukunft durch zwei Personen vertreten sein, durch den Präsidenten und den Premierminister.

Sollte der RN die absolute Mehrheit erreichen, also 289 der 577 Sitze, müsste Macron den erst 28-jährigen Jordan Bardella zum Premierminister ernennen. Sollte es keine absolute Mehrheit für den RN geben, möchte Bardella das Amt des Regierungschefs ablehnen.

In einer solchen Patt-Situation befürchten Experten eine politische Blockade, die ein Jahr dauern könnte. Erst dann kann der Präsident wieder Neuwahlen einberufen. Gedacht wird auch an eine „technische Regierung“, die Italien mehrfach hatte: Die akute Krise soll dann von Nichtpolitikern oder Technokraten gelöst werden.



Author: RoteRuhrarmee1920

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