Argentinien: Die ehrliche Bilanz des Javier Milei


Steine fliegen, Autos brennen, Polizisten setzen Schlagstöcke ein. Als vor wenigen Tagen das umstrittene Reformpaket „Ley Bases“ im Regierungsviertel von Buenos Aires vom Senat verabschiedet wird, kippt draußen die Stimmung. Einige Regierungsgegner haben sich für blanke Gewalt entschieden. Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei nennt sie später „Terroristen“. Seine linkspopulistische Gegenspielerin Cristina Kirchner behauptet dagegen, die Polizei selbst habe „Provokateure“ in die Menge geschmuggelt. Beweise dafür legt sie nicht vor.

Die Szenen sind symptomatisch für die verhärteten Fronten in Argentinien. Trotzdem ist die Lage anders, als es das linke Lager beim Amtsantritt von Javier Milei im vergangenen Dezember noch prophezeit hatte: Spätestens nach einem halben Jahr werde der Präsident wegen seines knallharten Reform- und Sparprogramms vom Volk aus dem Amt gejagt, hieß es damals.

Proteste vor dem Senat in Buenos Aires in der vergangenen Woche

Proteste vor dem Senat in Buenos Aires in der vergangenen Woche

Quelle: picture alliance / Sipa USA/Esteban Osorio

Es kam anders: Wenn Javier Milei am Sonntag von Olaf Scholz in Berlin empfangen wird, begrüßt der Bundeskanzler den derzeit beliebtesten Präsidenten Südamerikas. Das zumindest zeigt eine in dieser Woche veröffentlichte repräsentative Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstitutes „CB Consultora“.

Demnach befürworten 55,7 Prozent der Argentinier den Kurs ihres Präsidenten. Dieser auf den ersten Blick überschaubare Zustimmungswert reicht auf dem krisengeschüttelten Kontinent dennoch für Platz Eins. Der nächste demokratische Staatschef ist Brasiliens Lula da Silva auf Platz drei.

Laut Umfrage hat dieser Erfolg vorwiegend einen Grund: Mileis knallharte Reformen, die er im Wahlkampf angekündigt hatte, tragen erste zaghafte Früchte. Laut einer aktuellen Studie der brasilianischen Zentralbank hat die heimische Währung Real im laufenden Jahr mehr an Wert gegenüber dem US-Dollar verloren als der argentinische Peso. So etwas schien vor Mileis Amtsantritt noch undenkbar.

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„Die Regierung hat in den ersten sechs Monaten jegliches politisches Handeln den Zielsetzungen der Senkung der Inflation und der Erwirtschaftung eines Haushaltsüberschusses untergeordnet – und das recht erfolgreich“, sagt Susanne Käss von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Buenos Aires. Im Mai lag die Inflationsrate bei 4,2 Prozent (nach 25 Prozent im Dezember), fünf Monate in Folge wurde ein Haushaltsüberschuss erwirtschaftet. „Allerdings durch drastische Kürzungen auf der Ausgabenseite“, sagt Expertin Käss. Dazu zähle etwa die Reduzierung der staatlichen Subventionen vor allem für Energie, Gas und den öffentlichen Nahverkehr.

Zudem wurden mehr als die Hälfte der vielen argentinischen Ministerien eingespart, Transferleistungen an die Provinzen stark gesenkt sowie Mittel für Forschung und Entwicklung gekürzt, deren Nachhaltigkeit infrage stand.

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Auch der außenpolitische Kurs kommt in der Bevölkerung bislang besser an als von vielen erwartet. Seine klare Hinwendung zum Westen, den USA und Europa, sichtbar etwa an der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine und Israels, wären unter der peronistischen Vorgängerregierung undenkbar gewesen.

In einer Umfrage des Institutes Zuban-Cordoba unterstützen 48 Prozent der Argentinier diesen Weg, trotz einer traditionell eher antiamerikanischen Grundhaltung auf dem Kontinent. Kein anderes lateinamerikanisches Land hat in den vergangenen Jahren einen derart eindeutigen Wechsel seiner geopolitischen Ausrichtung vollzogen.

Die Armutsrate ist gestiegen

Doch das in Argentinien alles dominierende Thema ist die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Die auflagenstarke liberal-konservative Tageszeitung „La Nacion“ kommentierte in dieser Woche, Milei habe für mehr gute Nachrichten gesorgt als befürchtete Fehler begangen: „Er hat das Defizit gesenkt, die Inflation eingedämmt, den Dollar kontrolliert, die Reserven erhöht und die soziale Krise in Schach gehalten.“

Hinzu kommt, dass sich die Regierung bisher an die parlamentarischen Spielregeln hält und die Reformen demokratisch legitimieren will. Das bedeutet zwar längere Debatten über Gesetzesvorhaben – und viel Streit. Die Opposition reagiert angesichts ihres Machtverlustes wütend und droht Senatoren aus den eigenen Reihen, die für das Reformpaket stimmten, mit Parteiausschluss. Auch dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Daniel Scioli, der sich für eine Zusammenarbeit mit Milei entschied, winkt dieses Schicksal.

Die Proteste vor dem Senat in Buenos Aires eskalieren

Die Proteste vor dem Senat in Buenos Aires eskalieren

Quelle: picture alliance / Sipa USA

Der prominente linksgerichtete Armenpriester „Paco“ Oliveira verbrannte öffentlich ein Wahlkampfbild Sciolis und nannte ihn einen „Verräter“. Milei-Wählern drohte er, sie von den Armenspeisungen auszuschließen. Für den fanatisch-fundamentalistischen Kirchner-Flügel, der sich in der Tradition des Peronismus sieht, zählt Treue zum eigenen Lager derzeit mehr als die Suche nach Lösungen für die Probleme Argentiniens.

Denn mit Milei sind einige bestehende Probleme auch größer geworden. Die Armutsrate, die bei seinem Amtsantritt bereits hoch war, ist aufgrund der Sparmaßnahmen noch einmal angestiegen. Vor allem die Mittelschicht ist von gestiegenen Energie- und Transportpreisen betroffen. „Dass das Image Mileis bei der Bevölkerung trotzdem nicht gesunken ist, zeigt, dass es eine Resilienz der Menschen gibt, die wissen, dass diese harten Anpassungen notwendig sind“, sagte Agustin Etchebarne vom liberalen Thinktank Libertad y Progreso aus Buenos Aires im Gespräch mit WELT.

Problematisch ist aus Sicht von Argentinien-Expertin Käss von der Konrad-Adenauer-Stiftung jedoch die einseitige Fokussierung Mileis auf die Makroökonomie, also die großen Stellschrauben. „Das Land befindet sich in einer tiefen Rezession“, sagt sie, und die massiven Preissteigerungen durch den Abbau von Subventionen und die Wechselkurspolitik stellten viele kleine und mittlere Unternehmen vor große Herausforderungen oder führten gar zu deren Schließung.

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Globale Machtverhältnisse

So sind die Aufträge im Bausektor um mehr als 37 Prozent eingebrochen, teilt die argentinische Baukammer mit, mehr als 100.000 Jobs seien gestrichen worden. Auch im Hotel- und Restaurantbereich sowie im Transportwesen gab es Jobverluste.

Laut Regierung soll der durch die Sparmaßnahmen ausgelöste Tiefpunkt aber bald erreicht sein. Die Hoffnung auf große Investitionen auch aus dem Ausland ist riesig. Präsident Milei wirbt offensiv mit guten Bedingungen für die Technologiebranche, unterstützt wird er auch von US-Unternehmer Elon Musk.

Die Frage sei, „wann die Regierung konkrete Ergebnisse vorweisen kann, die auch direkt bei der Bevölkerung ankommen. Teile der Mittelschicht rutschen in die Armut ab“, sagt Expertin Käss. Noch sei die Unterstützung für Milei hoch. Auch, weil seine Anhänger neben seinem Kampf gegen die Inflation seinen Kurs gegen die verbreitete Korruption und Günstlingswirtschaft weiter mittragen. Aber die Geduld sei endlich, sagt Käss. Einen ersten Vorgeschmack lieferten die Proteste vor dem Senat.



Author: RoteRuhrarmee1920

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